Produktionsplanung, Prozessverbesserung

Interview: Wir machen Industrie 4.0, ohne es so zu nennen

Der österreichische Maschinenbauer STIWA Group macht seine Softwaretochter selbstständig. Factory Innovation sprach mit dem Führungsteam der STIWA Software.
13.07.2022 - von Norbert Gronau
Lesedauer:  7 Minuten
v. l. n. r.: Michael Pauditz, Bereichsleiter Innovation & Entwicklung Software; Robert Schoßleitner,
Geschäftsbereichsleiter Manufacturing Software; Michael Meisel, Bereichsleiter Vertrieb- und Produktmanagement Software

Was waren die Gründe, die STIWA Software mit einem eigenständigen Marktauftritt zu versehen?

Michael Meisel: Als führender Spezialist im Bereich der Produkt- und Hochleistungsautomation entwickeln wir seit 50 Jahren innovative Automations-, Produktions- und Softwarelösungen. Mit mittlerweile über 2 200 Mitarbeitern an zwölf Standorten unterstützen wir unsere Kunden weltweit, vom Engineering über automatisierte Serienfertigung bis zur Produktionsoptimierung.

Wenig sichtbar unter dem Dach der STIWA Group sind unsere Softwareprodukte bereits seit über 25 Jahren auf Fremdanlagen im Einsatz und unterstützen internationale Konzerne beim effizienten Betreiben sowie kontinuierlichem Optimieren ihrer Anlagen. Aufgrund der in den letzten Jahren deutlich gestiegenen Bedeutung der Software in der Produktion war für uns nun der Zeitpunkt gekommen, aus dem Schatten unseres Anlagenbaus zu treten, um am Markt als eigenständige Softwarefirma sichtbar zu werden.

Wo profitieren Ihre Kunden am meisten von den 50 Jahren Erfahrung, die Ihr Mutterunternehmen aufweist? Bitte erläutern Sie das gern an Beispielen.

Robert Schoßleitner: Wir haben als Unternehmen sehr bald begonnen, uns durch Standardisierung von mechanischen Komponenten vom Sondermaschinenbauer zum Experten für Hochleistungsautomatisierung weiter zu entwickeln. Das hat uns ermöglicht, die Komplexität in den Automatisierungsprojekten massiv zu senken, was wiederum zu schnelleren Durchlaufzeiten, niedrigeren Projektaufwänden und der Reduktion von Projektrisiken in den Maschinenbauprozessen führt.

Vor mehr als 30 Jahren haben wir begonnen, auch im Bereich Software Komponenten für die von uns gebauten Montageautomaten mit Wiederverwendungspotenzial zu standardisieren und zum Teil auch in Hochsprachensoftware auszulagern. Auch diese Standardisierungsschritte im Bereich Engineering-Tools, Echtzeitsystem, Robotik, HMI, Datentechnik, Leitsystem und Analyse haben zu messbaren Verbesserungen in den Maschinenprojekten geführt, da wir hier den Projektteams helfen, die immer steigenden Komplexitätsanforderungen zu beherrschen.

Sie beschreiben Ihre Lösung als „Completely Integrated“. Macht es das nicht schwierig, diese mit Drittprodukten zu koppeln? Auf welche Technologien setzen Sie dabei?

Michael Pauditz: Completely Integrated bedeutet, Technologien soweit zu umhüllen, dass die Dinge wie-der einfach handhabbar sind – im Sinne der heute bekannten Schlagworte Low-Code und No-Code. So sind beispielsweise unsere Patente im Bereich Laserschweißen, Schrauben, Pressen usw. das Ergebnis dieses Anspruchs. Technologien müssen auch immer wieder eingebunden werden, weil wir ja nicht alles selbst bauen wollen oder auch können. Hier liegt das Geheimnis in unserer Basis-Struktur, mit der wir jede Technologie soweit einhüllen können, dass sie wieder gleich aussieht für uns und unsere Kunden, unabhängig vom Hersteller.

Welchen Nutzen bringt der Digitale Zwilling Ihren Kunden und vor allem den Kunden Ihrer Kunden?

Michael Pauditz: Der digitale Zwilling ist die Grundlage für Transparenz und Sicherheit, mit der wir die Qualität und Performance in der Produktion unserer Kunden sicherstellen. Für die Kunden unserer Kunden bedeutet das günstigere Produkte bei gleichzeitig höheren Qualitätsstandards, kombiniert mit einer gesteigerten Verfügbarkeit und Produktionssicherheit.

Wie wollen Sie zukünftig am Markt wahrgenommen werden?

Michael Meisel: Mit dieser Frage haben wir uns die letzten Monate intensiv auseinandergesetzt, da unsere Softwarelösungen in keines der klassischen Muster passen.

Wir sehen uns als strategischer Partner für datengetriebene Software-Lösungen an und um den Shopfloor und damit als Ergänzung, aber teilweise auch Alternative zu gängigen MES-Lösungen. Und zwar immer dann, wenn es um Transparenz für die Optimierungen sowie Entscheidungsgrundlagen in den Bereichen Produkt, Prozess und Ressource , kurz PPR, geht.

Um es plakativ zu beschreiben, stellen Sie sich einen Eisberg vor: Die gängigen Softwarelösungen für den Shopfloor analysieren das Sichtbare, visualisieren Vorhandenes und bieten Möglichkeiten zur Analyse genau jener Daten. Wir hingegen kommen von der Maschine, aus der Tiefe der Produktion, wir kennen die täglichen Herausforderungen aus erster Hand. Daher wissen wir, wie man die Information dort abgreift, wo sie entsteht – am Sensor, auf der SPS. Diese Daten kombinieren wir mit dem übergreifendem Prozessverständnis, welches in der STIWA Group vorhanden ist und unseren Fähigkeiten im Bereich Data Science.

Welche Trends sehen Sie im Bereich der Automatisierung im Maschinenbau?

Robert Schoßleitner: Die Entwicklungsprozesse von neuen Produkten werden immer dynamischer. Um die Dynamik besonders bei Änderungen zu beherrschen, soll möglichst direkt auf die Daten aus der Produktentwicklung zurückgegriffen werden. Die Auswirkungen von Produktänderungen wirken möglichst konsistent auf den nachfolgenden Maschinenbauprozess. Diese Integration wird nur durch die konsequente Digitalisierung dieser Schnittstelle erreicht.

Die oft mechatronischen Produkte werden komplexer. Produktionsmittel müssen auf die Bedarfe und auf das Umfeld sehr kurzfristig und flexibel reagieren. Daher spielt die Datentechnik bei Projektanforderungen eine immer größere Rolle: Maschinen müssen in den digitalen Informationsfluss horizontal und vertikal in die sich evolutionär weiter entwickelnde IT der Kunden einge-bettet werden. Eine Maschine hat somit nicht nur eine physische, logistische Schnittstelle, sondern auch eine immer stärker ausgeprägte Informationsschnittstelle.

Michael Pauditz: Interessant sind auch die Bewegungen von der klassischen Automatisierungspyramide zum Informationsnetz im Shopfloor. So fallen aus unserer Sicht die klassischen Strukturen, weil die realen Probleme mit dieser Struktur nur eingeschränkt gelöst werden können. Einige Produzenten versuchen das Problem selbst in den Griff zu bekommen, indem sie versuchen, eigene Standards zu etablieren. Gerade hier können wir mit unserer Erfahrung im Bereich Standardisierung von Maschinensoftware, aber auch von Software für den Shopfloor, aktiv unterstützen.

Wie kann es gelingen, den Anforderungen nach immer mehr Flexibilität und Individualität gerecht zu werden?

Michael Pauditz: In den letzten 30 Jahren haben wir Abstraktionsebenen geschaffen, auf denen man die Welt einfach darstellen kann. Zeitgleich existieren Modelle, um die Dinge schnell zu erweitern, zu orchestrieren, zu analysieren und zu optimieren. Ein sehr erfolgreiches Beispiel ist unsere eigene graphische Programmiersprache. Diese ist vom Aufbau und der Bedienung so einfach, dass diese selbst ohne klassische Softwareausbildung verstanden wird und unsere eigenen mechanischen Konstrukteure bereits in der Konzeptionierungsphase der Anlagen damit arbeiten.

Was macht gerade Ihr Angebot so einzigartig?

Michael Meisel: Wir bauen seit 50 Jahren Hochleistungsautomationsanlagen, welche mit unseren Soft-ware Tools gebaut, in Betrieb genommen und betrieben werden. Zusätzlich betreiben wir seit über 20 Jahren unsere Anlagen in einem eigenen Produktionswerk und nutzen dort unsere Softwarelösungen zum kontinuierlichen Monitoren und Optimieren. Darüber hinaus produzieren weltweit über 2 500 hochwertige Automatisierungsanlagen unterschiedlichster Hersteller mit unserer Software.

Unser Portfolio reicht vom Smart Alarming mittels Smartwatch oder Smartphone, über Monitoring Lösungen wie Andon Boards sowie klassische Operation Tools wie Leitstandssoftware und HMI bis zur Optimierung mittels Analysesoftware, Predictive Services oder KI-Anwendungen.

Immer nahe an der Maschine, bieten wir unseren Softwarekunden umfassende Möglichkeiten hinsichtlich datengetriebener Entscheidungsfindung und Datentransparenz an der Produktionsanlage sowie globaler Vernetzung über alle Standorte. Mit unseren Lösungen digitalisieren wir die diskrete Fertigung und bringen Transparenz in den Shopfloor.

Das Stichwort Industrie 4.0 tauchte bisher nicht auf. Ist das kein Thema für Sie und Ihre Kunden?

Michael Pauditz: Wir wundern uns, welche neuen Namen Dinge bekommen, die wir schon sehr lange verwenden. Unser Anspruch war es schon immer, kleinste Gesamtkosten für unsere Kunden über die Nutzungszeit der Anlagen sicherzustellen. Daher kümmern wir uns um die Bedürfnisse unserer Kunden, nutzen die Technologien, welche am effizientesten sind und waren dabei der Zeit immer weit voraus.

Robert Schoßleitner: Industrie 4.0 ist in der Tat ein Schlagwort, das vor ca. 10 Jahren in den Sprachgebrauch der Maschinenbaubranche und der produzierenden Industrie eingezogen ist. Ein Großteil unserer Softwareprodukte und Kundenlösungen sind genau diesem Bereich zuzuordnen. Daher können wir ohne Zweifel behaupten, dass wir Industrie 4.0-Spezialisten sind. Wir haben diese Lösungen bereits erfolgreich bei unseren Kunden implementiert, bevor der Begriff überhaupt zum Trend wurde. Viele unsere Kunden sind daher im Bereich der Digitalisierung der Shopfloor-Prozesse Vorreiter und unsere Lösungen haben sich in digitalisierte Produktionslandschaften nahtlos integriert.

Wie helfen Sie Ihren Kunden, mit Lieferengpässen bei Materialien und stark steigenden Energiepreisen zurechtzukommen?

Michael Meisel: An den aktuellen Herausforderungen können auch wir leider nichts ändern, jedoch können unsere Kunden mit unseren Softwarelösungen bessere Entscheidungen treffen. Die Grundlage optimaler Entscheidungen ist die Transparenz: Transparenz der Zahlen, Daten und Fakten. Unsere auf die Anforderungen in der diskreten Fertigung optimierten Datenmodelle, kombiniert mit Werkzeugen, welche auf die Bedürfnisse der Produktion zugeschnitten sind, ermöglichen es, gegen jede Zielgröße zu optimieren - sowohl was die klassische Leistungssteigerung von Anlagen als auch Bereiche wie Energieeinsparung, Reduzierung von Ausschuss und somit Optimierung des Materialeinsatzes oder Track&Trace-Lösungen zur Optimierung von Lieferketten betrifft.

Herr Meisel, Herr Schoßleitner, Herr Pauditz, herzlichen Dank für das Gespräch!


Tags: Automatisierung Industrie 4.0 Softwarelösungen Sondermaschinenbau Stiwa Group

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