Der digitale Zwilling für die Fabrik 4.0
Wie aus einem Industrie 4.0-Konzept Realität wird
Lesedauer: 7 Minuten

Digitale Zwillinge sind unbestritten ein Enabler für viele datenintensive Anwendungen im Bereich Industrie 4.0, die auf unterschiedlichste heterogene Datenquellen zugreifen müssen. Oft sind mit diesen Anwendungen neue Geschäftsmodelle und Ökosysteme verbunden, speziell wenn die Daten aus firmen- und herstellerübergreifenden Datenquellen kommen. Spätestens dann ist man auf der Suche nach einer Lösung, die mit den Systemen der eigenen Kunden, Partner und Lieferanten kompatibel ist. Der Einsatz von Industrie 4.0-Lösungen schafft Interoperabilität, sodass Komponenten, Geräte und Anwendungen nahtlos über Unternehmen, Branchen und Länder hinweg kommunizieren können. An dieser Stelle ist die Verwaltungsschale (engl. Asset Administration Shell, AAS) der Schlüssel. Sie hilft, digitale Zwillinge für Industrie 4.0 zu implementieren und ist die Basis, um einheitliche und offene Industrie 4.0-Standards zu entwickeln und zu nutzen. Mit der Gründung der Industrial Digital Twin Association Ende 2020 wurde ein wichtiger Meilenstein für die Investitionssicherheit und die Unterstützung bei der Umsetzung im Unternehmen gesetzt. Seit März 2021 können neue Mitglieder hinzustoßen.

© Bosch Connected Industry [1]
Der Bedarf an Daten in der Industrie 4.0 steigt stetig, die Komplexität auch (Bild 1). „Industrie 4.0 macht aus Daten eine Währung, die problemlos zwischen den beteiligten Akteuren ausgetauscht werden kann” [2]. Um einen solchen problemlosen Austausch zu ermöglichen, muss nicht nur das Austauschformat beschrieben werden. Vielmehr müssen die auszutauschenden Daten auch von allen Akteuren in derselben Weise verstanden werden. Anders ausgedrückt: Auch die Semantik und der Kontext dieser Daten müssen in einer standardisierten Weise beschrieben werden können. Genau das ist die Rolle des digitalen Zwillings.
Die Verwaltungsschale ist die offene und interoperable Umsetzung des digitalen Zwillings für Industrie 4.0.
Die Verwaltungsschale ist die Umsetzung des digitalen Zwillings für Industrie 4.0. Das Konzept der Verwaltungsschale wurde in der Plattform Industrie 4.0 erarbeitet. Die erste detaillierte Spezifikation der Verwaltungsschale wurde Ende 2018 veröffentlicht. Die Arbeitsgruppe „Referenzarchitekturen, Standards und Normung“ arbeitet die Verwaltungsschale weiter im Detail aus und führt sie in die Anwendung. Doch was ist die Verwaltungsschale und warum ist sie so wichtig für die Industrie 4.0?
Die Verwaltungsschale ist nicht nur Speicher, sondern auch Kommunikationsschnittstelle – über sie ist ein Gerät online in die vernetzt organisierte Industrie-4.0-Produktion eingebunden.
Es ist so möglich, ein Gerät in seinem Lebenslauf vom Engineering bis zum Betrieb und Austausch zu begleiten und auf alle seine Informationen zuzugreifen.

Verwaltungsschale und die Bedeutung der ausgetauschten Daten
Das Informationsmodell der Verwaltungsschale erlaubt verschiedene Implementierungen. Neben dem Online-Zugriff ist eine ZIP-Datei (komprimierte und strukturierte Datei) die einfachste Variante: Sie kann alle denkbaren Geräte-Informationen aufnehmen, wie etwa Zeichnungen, Betriebsanleitungen, Parametersätze, aber auch Software und Firmware eines Geräts sowie Links zu Herstellerseiten. Sie dokumentiert damit beim Maschinenbauer den Auslieferungszustand einer Komponente. So entfällt bei Service oder Gerätetausch viel Suchaufwand. Üblicherweise werden die Daten aber in Geräten, Maschinen und Anlagen sowie in Softwaresystemen und deren Datenbanken gespeichert – egal, ob es sich z. B. um ERP-, MES-, CAD-, Simulations- oder Programmiersysteme handelt. Über standardisierte Schnittstellen wie OPC UA, JSON-Objekte oder Webservices können die Daten der Verwaltungsschale dann zugänglich gemacht werden.
Das Informationsmodell der Verwaltungsschale gibt nicht vor, wo Daten gespeichert werden: ob im Produkt, in der Hersteller- oder Kunden-IT vor Ort (on-premise), in Edge- oder Cloud-Systemen – alle Varianten und Kombinationen sind möglich. Die Konzepte und das Informationsmodell der Verwaltungsschale erlauben es, Assets zu beschreiben, die selbst keine Kommunikationsschnittstelle haben (z. B. mechanische Werkstücke). Damit können auch solche passiven Assets in ihrem Lebenslauf über IT-Systeme, die diese Informationen stellvertretend für sie speichern, begleitet werden und einen digitalen Zwilling erhalten.

Diese Flexibilität der Verwaltungsschale ist die Voraussetzung dafür, dass die unterschiedlichsten automatisierten Abläufe rund um den digitalen Zwilling im Lebenslauf von Automatisierungs-komponenten, Anlagen und Endkunden-Produkten realisiert werden können. Denn für eine breite und zuverlässige Umsetzung von Industrie 4.0-Projekten müssen Komponentenhersteller, Maschinenbauer und Anlagenbetreiber das Informationsmodell der Verwaltungsschale in unterschiedlichsten Szenarien mit Leben füllen und dabei Informationen standardisiert und damit kostengünstig austauschen können.
Einen Digitalen Zwilling selbst erstellen
Der AASX Package Explorer (dt.: Verwaltungsschalen-Explorer) ist ein Open-Source-Tool und ein guter Ausgangspunkt für alle, die einen digitalen Zwilling modellieren möchten. Für die Eigenschaften (Properties), die in den Teilmodellen verwendet werden, kann auf internationale Wörterbücher zurückgegriffen werden, die die Bedeutung der Properties standardisieren. Ein Beispiel eines solchen Wörterbuchs ist ECLASS.
Der Explorer erleichtert den Einstieg in die Verwendung der Verwaltungsschale. Mit ihm können Verwaltungsschalen modelliert und gebrowst werden. Das Tool kann unter https://github.com/admin-shell-io/aasxpackage-explorer/ kostenfrei heruntergeladen werden [3].
Teilmodell-Vorlagen zur Homogenisierung der Daten
Damit beim Erstellen von Verwaltungsschalen über die Breite der Industrie-Unternehmen kein Wildwuchs entsteht, bedarf es einiger Regeln. Denn für die unterschiedlichsten Assets in einer Maschine sollen Verwaltungsschalen-Anwender die Teilmodelle (z. B. für die technischen Daten) immer an der gleichen Stelle und einheitlich aufgebaut finden können. Das hilft nicht nur dem Menschen als Autor oder Leser, auch automatisierte Verfahren, z. B. für die Extraktion von Ersatzteil-Informationen, profitieren davon. Dazu haben Arbeitsgruppen der Plattform Industrie 4.0 sogenannte Teilmodell-Vorlagen („Submodel Templates”) entwickelt: Beginnend mit Vorlagen für die wichtigsten Informationen, die ein Asset identifizieren und beschreiben, nämlich Typenschild (Nameplate) und Technische Daten (Technical Data), entstanden zwei englischsprachige Dokumente.
Diese Submodel Templates bilden eine gute Grundlage für den Einstieg in den AASX Package Explorer und dienen als Basis für die Erstellung einer Verwaltungsschale am Beispiel eines Servomotors.
Die Bilder 3 und 4 zeigen jeweils den dreiteilig gegliederten Bildschirm: Auf der linken Seite wird klein das
Asset dargestellt, in der mittleren Baumdarstellung können die Strukturelemente der Verwaltungsschale,
ausgehend von der obersten Verwaltungsschalen-Ebene (Asset Administration Shell AAS) über Teilmodelle (Submodel, SM) und Merkmalsgruppen (Submodel Element Collection, SMC) bis hin zu einzelnen Merkmalen (Properties, Prop) durchlaufen werden. Je nachdem, welches Element in der Mitte ausgewählt wurde, werden rechts kontextabhängig die Detailinformationen dazu angezeigt.

© ESR Pollmeier GmbH, CC BY-NC-ND 4.0 [4]

Bild 3 zeigt für die Typenschild-Vorlage (Submodel Template Nameplate) und ein ausgewähltes Typenschild-Merkmal (die Servomotor-Bezeichnung des Herstellers) die dahinterliegenden Merkmals-Informationen aus ECLASS und den herstellerspezifischen Wert. Der Benutzer des Explorers muss hier lediglich die Merkmale aus einem Katalog – in diesem Fall von ECLASS – auswählen und die asset-spezifische Typenschild-Information ergänzen. Sollen viele Verwaltungsschalen für eine größere Produktpalette entstehen, kann der Prozess über ERP-, PLM-Systeme oder Produktkonfiguratoren automatisiert werden. Der AASX Package Explorer kann dann zur Qualitätssicherung und zum Debugging von Verwaltungsschalen eingesetzt werden.
Initiativen fördern semantische Interoperabilität weltweit, damit das volle Potenzial von digitalen
Zwillingen ausgeschöpft werden kann, muss sichergestellt werden, dass Interoperabilität unternehmens- und länderübergreifend möglich ist. Neben der Plattform Industrie 4.0 gibt es weitere Initiativen, die relevant sind. So zum Beispiel die beiden Open Source-Initiativen Industrial Digital Twin Association (IDTA) und Open Manufacturing Platform (OMP).
Die Verwaltungsschale als Implementierung des digitalen Zwillings im industriellen Kontext setzt sich immer mehr durch. Dies wird u. a. durch die Gründung der Industrial Digital Twin Association sowie die Bereitstellung erster standardisierter Teilmodell-Vorlagen belegt. Verschiedene Open-Source-Lösungen ebnen den Weg für schnelle Umsetzungen des digitalen Zwillings.

Der aktuelle Leitfaden für Verwaltungsschalen-Publikationen zeigt verschiedenen Lesergruppen ausgewählte „must-read“-Dokumente. Er wird regelmäßig aktualisiert.