Intensiver Wettbewerb und die hieraus resultierenden hohe Anforderungen an die Wirtschaftlichkeit von Investitionen in Betriebsmittel zwingen die Unternehmen zu einer gut fundierten Investitionsentscheidung. Cardboard-Engineering, d.h. den Aufbau eines Betriebsmittels mit Hilfe von Kartonage, ist eine Methode, um im Vorfeld der Spezifikation und Beschaffung nicht nur ein auf die Belange des Betriebes maßgeschneiderte Betriebsmittel zu entwickeln, sondern durch die Integration der beteiligten Mitarbeiter in das Projekt alle relevanten Aspekte zu berücksichtigen und ein gemeinsames Handeln im Sinne der langfristigen Unternehmensziele zu bewirken.
Steht die Beschaffung neuer Maschinen und Anlage zur Disposition, erlebt man in der betrieblichen Praxis häufig folgende Konstellation: Betriebsmittelkonstrukteure und Fertigungsplanung legen die Konzeption und das Arbeitsplatzlayout auf der Basis der dort üblichen Standards fest. Entsprechend werden die Produktionsmittel beschafft und in der Produktion installiert.
Danach zeigen sich verschiedene Probleme und Unzulänglichkeiten der neuen Betriebsmittel in der Praxis. Die Abläufe sind nicht optimal, es entstehen zusätzliche Zeiten im Rahmen der Arbeitsabläufe, die nach den Prinzipien des Lean Management eindeutig als Verschwendung zu klassifizieren sind (unnötige Bewegung, nicht wertschöpfende Verrichtungen). An ein verschwendungsfreies Konzept der Materialzu- und -abführung wurde nicht gedacht. Es muss nachträglich mit erheblichem Aufwand und zusätzlichen technischen Einrichtungen „nachgerüstet“ werden. Hinzu kommt ein in der Praxis enttäuschender Wert für die Maschinenverfügbarkeit.
Diese Probleme sind tägliche Praxis in den Unternehmen und haben die Ursache in einer unzureichenden Zusammenarbeit der Mitarbeiter, welche mit den Betriebsmitteln arbeiten, der innerbetrieblichen Logistik, der Fertigungsplanung, den Betriebsmittelkonstrukteuren und den Betriebsmittelbauern. Eine Zusammenarbeit der genannten Fachkompetenzen erscheint auf den ersten Blick ein zeitaufwendiges Unterfangen, welches selbstverständlich betriebliche Ressourcen erfordert. Auf der anderen Seite kann es sich heute kein Unternehmen mehr leisten, Betriebsmittel zu beschaffen, die aufgrund der suboptimalen Konzeption zu erhöhten Folgekosten im operativen Betrieb führen.
Herausforderungen des Wettbewerbs im Hinblick auf Betriebsmittel
Die meisten produzierenden Unternehmen stehen heute in einem intensiven Wettbewerb. Die aus volkswirtschaftlicher Sicht für Deutschland besonders wichtige Automobil- und Automobilzulieferindustrie ist ein gutes Beispiel hierfür. In diesen Unternehmen sind die Investitionskosten in neue Betriebsmittel ein entscheidender Stellhebel zur Beeinflussung der Wirtschaftlichkeit. Die Senkung der CAPEX (Capital Expenditure) steht in vielen Unternehmen auf der Agenda für die nächste Planungsperiode.
Darüber hinaus haben Fehlentscheidungen bei der Beschaffung von Betriebsmitteln weitreichende Folgen. Da Betriebsmittel in den meisten Fällen bei den Herstellern nach individuellen Wünschen gefertigt werden, ist eine Veräußerung im Falle, dass sich die Konzeption als „unpassend“ erweist, mit erheblichen finanziellen Verlusten verbunden. Betrachtet man darüber hinaus die Größe OPEX (Operational Expenditure) als Ergebnis eine Investitionsentscheidung, ist festzustellen, dass zusätzliche Kosten durch eine suboptimale Arbeitsablauforganisation langfristig zu höheren Kosten führen, welche die Wirtschaftlichkeit der Produktion im Wettbewerbsumfeld infrage stellen. Fehler der geschilderten Art kann sich heute kein Unternehmen mehr erlauben, welches in einem Wettbewerbsumfeld agiert, das höchste Effizienz und Wirtschaftlichkeit erfordert.
Ein weiteres Problem, welchem sich die Unternehmen gegenübersehen, ist die Verfügbarkeit der installierten Betriebsmittel. Da „Reservekapazität“ aufgrund der bereits vorgestellten Schlüsselgröße CAPEX nicht mehr zur Diskussion steht, muss auch ein hohes Maß der Verfügbarkeit der Betriebsmittel gegeben sein. Ein häufig verwendetes Maß ist die Overall Equipment Effectiveness (OEE) welche sowohl die Verfügbarkeit, als auch die Qualität und die Leistungsfähigkeit von Betriebsmitteln beinhaltet. Auch in dieser Hinsicht ist es aus den genannten Gründen erforderlich, die „richtige“ Entscheidung im Hinblick auf die Beschaffung und Auslegung von Betriebsmitteln zu treffen.
Probleme der Konzeption von Betriebsmitteln in der Praxis
Die entscheidende Frage ist jedoch, wie eine „richtige“ Entscheidung getroffen werden kann. Hierzu sind zunächst die im einführenden Abschnitt geschilderten Gründe einer unzureichend fundierten Entscheidung zu benennen:
- Keine Nutzung des Wissens aller Beteiligten Mitarbeiter (Betriebsmittelkonstrukteur, Fertigungsplaner, Betriebsmittelbauer, Produktionsmitarbeiter, Logistik)
- Festlegung der Arbeitsabläufe „am Schreibtisch“
- Spezifizierung der Anforderungen an die Betriebsmittel aus der tatsächlichen Nutzung im Rahmen des betrieblichen Prozesses
- Keine Ermittlung potenzieller Fehlerquellen, welche die OEE negativ beeinflussen können
- Fehlende Akzeptanz der operativen Mitarbeiter für die neuen Betriebsmittel
- Keine Eliminierung der Verschwendung bereits im Vorfeld des Betriebsmitteleinsatzes
Ein Konzept zur Lösung der dargestellten Probleme ist das sogenannte Cardboard-Engineering.
Cardboard-Engineering als Problemlösungskonzept
Wenn man sich der Kritik annimmt und gleichzeitig die Vorteile der modernen softwaregestützten Entwicklung gegenüberstellt, so stellt sich heute die Frage, wie das Cardboard-Engineering auf der einen Seite die Vorteile übertreffen und auf der anderen Seite die Nachteile eliminieren soll. Hier besteht oft das Missverständnis, dass das Cardboard-Engineering einen Ersatz für die verwendeten Methoden sein soll. Dies ist aber nicht der Fall.
Beim Cardboard-Engineering wird eine Maschine oder Fertigungszelle während eines Workshops aus Kartons nachgebaut und simuliert. Hierbei nehmen verschiedene Teilnehmer aus dem Unternehmen teil und durchforsten das neue Equipment akribisch nach wertsteigernden und nicht wertsteigernden Prozessschritten sowie nach der tatsächlichen Anwendbarkeit des Anlagendesigns im Produktionsalltag (vergl. [1]).
Cardboard-Engineering beinhaltet eine typische Doppelnatur wie alle Lean-Management-Werkzeuge. Es ist auf der einen Seite ein Prozess, also ein systematischer Ablauf von Schritten mit vorgegebenen Reihenfolgen, die während eines Entwicklungsprozesses eingehalten werden müssen und ist auf der anderen Seite eine Ansammlung von Management-Werkzeugen, die für den Entwicklungsprozess bestimmt sind. Jedoch ist der gesamte Ablauf als ein Teilablauf in einem Produktionssystem/Geschäftssystem integriert neben anderen Werkzeugen wie z.B. Single Minute Exchange of Die, Pull, Total Productive Maintenance usw. Somit ist Cardboard-Engineering kein Ersatz, sondern das Bindeglied zwischen den Entwicklungsphasen bis zur deren Realisierung. Außerdem werden die Know-How-Träger durch die Cardboard-Engineering Philosophie und die Cardboard-Engineering Workshops zur Anwendung der Methode und Zusammenarbeit aufgefordert. Hierdurch kommt der Gemba-Ansatz zum Tragen, „gehe, wo der Nutzen bzw. die Wertschöpfung für den Kunden geschaffen wird“. Somit wird abgeschottetes Abteilungsdenken vermieden sowie der Fokus auf die eigentliche Aufgabenstellung gelenkt.
Der Cardboard-Engineering Workshop ist der Kern der Methodik. Dieser stellt die ausführende Seite des Cardboard-Engineering Konzepts dar. Hier werden zwischen den Entwicklungsphasen Workshops abgehalten, bei denen das Betriebsmittel zusammen mit den Mitarbeitern der verschiedenen Disziplinen aus Kartonage nachgebaut wird.
Die Neuentwicklung, zum Beispiel ein Montageautomat, wird auf wertschöpfende und nicht wertschöpfende Schritte hin untersucht. Außerdem werden Maßnahmen während des Workshops definiert. Probleme, die nicht aus den abstrakten 3D-Zeichnungen sichtbar sind, werden besprochen und alternative Lösungen erarbeitet.
Verschwendung wird eliminiert und der Kundennutzen gesteigert
Die plastische Eigenschaft des Nachbaus generiert ein psychologisches Bindeglied zwischen den Abteilungen und erlaubt die Erfahrung der Mitarbeiter aus der Fertigung und die oft abstrakten Ideen der Ingenieure zu verschmelzen und gleichzeitig die verschiedenen Sprachebenen zu überbrücken. Dabei stellt der spezielle Ablauf des Cardboard-Engineering-Workshops die Methode zur Verfügung. Der Moderator des Workshops hat die Aufgabe auf der einen Seite die Parteien zu moderieren (wenn notwendig auch zwischen diesen zu vermitteln) und auf der anderen Seite Ergebnisse im Workshop zu bewirken und diese zu wiederum einer Bewertung zu unterziehen. Der Workshop-Ansatz bindet weitere Parteien mit ein, wie zum Beispiel die Instandhaltung und den Einkauf/Beschaffung. Die Erfahrungen der Instandhaltung fließen in das Konzept ein, wodurch lange Stillstände in der Betriebsphase von vornherein vermieden werden. Für den Lieferanten wird das abstrakte Lastenheft verständlicher und somit kann ein Angebot gezielter und kosteneffizienter erstellt werden. Für den Einkauf entsteht die Möglichkeit die Kosten zu reduzieren.

Dabei werden während des Workshops nicht nur die üblichen Moderationswerkzeuge wie z. B. Brainstorming-Verfahren, sondern auch statistische Werkzeuge eingesetzt, die mit Zahlen, Fakten und Daten aufwarten, um dem Workshop die notwendige Objektivität zu verleihen. Außerdem kommen weitere Lean-Techniken zum Einsatz wie das erwähnte Nachbauen des Betriebsmittels mit Kartonage sowie zum Beispiel MTS (Minimum Technical Solutions).
Ergebnisse des Einsatzes von Cardboard-Engineering
Am Ende steht immer die gleiche Frage im Raum, worin die Vorteile des Cardboard-Engineerings liegen. Diese werden offensichtlich, wenn man sich mit dem Konzept auseinander gesetzt hat. Das Nachbauen des Betriebsmittels, der Fertigungseinheit oder eines Montageplatzes bildet das Bindeglied für den Workshop, welches das eigentliche Ziel der Aktivität ist. Es durchbricht das funktionsorientierte und abteilungsgesteuerte Denken zum Nutzen des ganzen Unternehmens und fordert die Akteure im soziotechnischen System auf, auch entsprechend zu handeln. Mit dem richtigen Aufbau des Workshops liefert Cardboard-Engineering die Rahmenbedingungen für Teamarbeit zur Erreichung der Kennzahlen und zur Vermeidung von Fehlern sowie der Möglichkeit von Kaizen, d.h. der ständigen „Verbesserung zum Guten“.

Die wesentlichen Vorteile des Cardboard-Engineering sind:
- Reduzierung der Investitionskosten
- Kostenvermeidung während der Betriebsphase sowie höhere Verfügbarkeit
- Schaffung von Raum für Kaizen (KVP – Kontinuierlicher Verbesserungsprozess)
- Generierung von Teambildung und Entwicklung zwischen den verschiedenen Disziplinen bzw. Funktionen im Unternehmen (z.B. Ingenieurwesen, Fertigung, Einkauf usw.)
- Einfache Bedienbarkeit des Betriebsmittels sowie geringerer Wartungsaufwand in der Betriebsphase
- Höhere Akzeptanz des Betriebsmittels unter der Belegschaft
Die in der Praxis gemachten Erfahrungen zeigen, dass eine sechsstellige Investitionssumme eines Betriebsmittels durch die Anwendung des Cardboard-Engineering Workshops halbiert werden konnte. Gleichzeitig fand eine höhere Anpassung des Equipments an die Bedürfnisse der Produktion statt, so dass die Akzeptanz und Verfügbarkeit von Beginn an in der Fertigung erhöht werden konnten. Des Weiteren ist durch die Teamarbeit und -bildung während der Entwicklung und Implementierungsphase die Voraussetzung für den nächsten Schritt, Kaizen zu leben, geschaffen worden. Doch wie alle Lean Management Werkzeuge entwickelt Cardbaord-Engineering seine gesamte Effizienz nur in Kombination mit anderen Lean Management Werkzeugen wie zum Beispiel Total Productive Maintenance, Single Minute Exchange of Die, Pull usw. Wer Teil des Produktions- oder Businesssystems ist, dessen Ziel ist es, Kaizen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zu generieren.
Schlüsselwörter:
Betriebsmittel, Cardboard Engineering, Lean Management, Kaizen
Literatur:
[1] Gorecki, P.; Pautsch, P. „Lean Management“ Hanser Verlag München 2. Auflage 2011Tags: Betriebsmittel Cardboard Engineering Kaizen Lean Management