Produktionsplanung

In kürzester Zeit zu echten Innovationen kommen

Lesedauer:  7 Minuten

Herr Deues, vor 30 Jahren ging hinrichs+müller – die heutige ams.Solution AG – an den Markt. Wie sah die Softwarelandschaft damals aus? 

Deutlich heterogener als heute. Zur damaligen Zeit teilte sich der Markt für Geschäftssoftware in zwei sehr unterschiedliche Bereiche. Den einen Bereich prägte eine Vielzahl von Anbietern, die Systeme für die Planung und Steuerung der Produktionsabläufe (PPS) entwickelt hatten. Den anderen Bereich dominierten Angebote für die kaufmännische Auftragsverwaltung (KAV). Viele der späteren ERP-Anbieter kamen aus diesem kaufmännischen Marktsegment und haben sich dann nach und nach in die Produktionswelt hineingearbeitet. Bei ams lief es genau anders herum. Der Produktionsbereich, das Engineering und der Einkauf mit der Materialwirtschaft bildeten die Ausgangspunkte unserer Produktentwicklung.

Ihr System richtet sich vor allem an Einzel- und Auftragsfertiger. Warum liegt der Fokus gerade hier? 

Rainer Hinrichs, gemeinsam mit meinem Vorstandskollegen Willibald Müller einer der beiden Gründer von ams, hatte bereits in den Siebzigerjahren einschlägige Erfahrungen in der Einzelfertigung gemacht. Damals stand er in Diensten von PS Systemtechnik, einem echten Urgestein in der deutschen PPS-Landschaft. Dessen Gründer Prof. Joachim Scheel zählte bis Ende der Achtzigerjahre zu den Vordenkern der Branche. 1977 habe ich Prof. Scheel und Herrn Hinrichs auf der EMO in Hannover kennengelernt. Die beiden hatten ein umfassendes PPS-Konzept für die Auftragsfertigung mit zur Messe gebracht.

Weshalb haben Sie sich für eine solche Anwendung interessiert?

Als Mitarbeiter im kaufmännischen Vertrieb von Wang Deutschland war ich auf der Suche nach einer Standardsoftware für die Fertigung. Im Nachhinein betrachtet, muss ich sagen, dass dieser Gedanke wohl etwas vermessen war. Ein solches Marktsegment war Ende der Siebziger noch nicht wirklich erkennbar. Entsprechend stark hat mich das Konzept von Prof. Scheel beeindruckt. Im Anschluss an die Messe habe ich ihm die passende Wang-Hardware besorgt, auf der er seine Konzeption mit Rainer Hinrichs als Entwicklungschef verwirklichen konnte. Später stieß dann auch Willibald Müller hinzu. 1988 haben sich die beiden dann selbstständig gemacht und ihr eigenes Unternehmen gegründet.

Wann kamen Sie hinzu?

Ich bin 1997 als Geschäftsführer eingestiegen. Die Gründung von hinrichs+müller hatte ich noch von Wang aus, als Vertriebsdirektor Deutschland, miterlebt. Gleich von der ersten Minute an standen wir in ausgesprochen engem Kontakt miteinander. Der Grund dafür waren einige meiner damaligen Kunden, die mit notleidenden PPS-Projekten zu kämpfen hatten. Als Hardwarelieferant haben wir uns in der Pflicht gesehen, die Kunden aus dieser Notlage zu befreien. Da es in den meisten Fällen um Einzel-, Auftrags- und Variantenfertigung ging, habe ich hinrichs+müller mit dieser Aufgabe beauftragt.

Somit hat sich ams zunächst auf die Prozessberatung konzentriert?

Genauso war es. Wobei damals kaum jemand von Prozessen, geschweige denn von Prozessberatung sprach. Stattdessen herrschte eine stark funktional geprägte Denke vor. Viele Anwender hatten die Erwartungshaltung, dass sich die Funktionen einer Software gewissermaßen auf Knopfdruck in Dienst nehmen lassen. Wie sehr es sich stattdessen lohnt, erst einmal den Ist-Prozess auf seine Wirtschaftlichkeit hin zu prüfen, ihn dann gegebenenfalls neu auszurichten und erst danach in der Software abzubilden, war oft ein harter Lernprozess. Und er ist es vielerorts auch heute noch. Für Softwarehäuser reicht es daher bei Weitem nicht aus, sich einzig damit zu befassen, lauffähige Applikationen zu programmieren. Mindestens genauso wichtig ist die beraterische Seite ihres Geschäfts. Auf Grundlage dieser Erfahrungen haben wir dann ein Standard-ERP-System für die Einzel-, Auftrags- und Variantenfertigung entwickelt.

Was macht eine hohe Kundenindividualität so besonders? 

Lassen Sie mich die Frage vor dem Hintergrund unserer Kunden beantworten, die Investitionsgüter produzieren. Fast all diese Unternehmen haben ihren Sitz in Deutschland, Österreich und der Schweiz, alles Hochlohnländer. Als Industrieausrüster kann man an einem solchen Standort nur dann überleben, wenn man den Kunden mit jedem neuen Produkt mindestens einen und nach Möglichkeit auch gleich mehrere Wettbewerbsvorteile bringt. In der Praxis gibt es da unzählige Möglichkeiten der Differenzierung. Was all diesen Möglichkeiten jedoch gemein ist, ist die Tatsache, dass unsere Kunden damit ein Stück ingenieur-
technisches Neuland betreten. Und zwar mit jedem einzelnen Auftrag. Sicher, wann immer es geht, greifen natürlich auch Einzelfertiger auf Standards zurück. Dessen ungeachtet liegt der Anteil des Engineering schnell bei 20 bis 30 Prozent, oft sogar noch einmal deutlich darüber. Kundenindividualität ist somit Teil der DNA unserer Kunden.

Wie haben sich die Anforderungen der Einzelfertiger in den letzten 30 Jahren geändert? 

Noch stärker als dies ohnehin schon der Fall war, arbeiten sie in enger Abstimmung mit dem Engineering ihrer Auftraggeber. Entsprechend haben sich viele Einzelfertiger vom reinen Technologielieferanten zum kollaborativen Problemlöser gewandelt. Das beginnt bereits im Vertriebs-
prozess, der noch einmal deutlich komplexer und langwieriger geworden ist. Denn zum einen gilt es, die ständig steigenden Leistungsanforderungen der Kunden zu erfüllen. Und zum anderen gibt es den Trend, dass die zu bauenden Ausrüstungsgüter zusätzliche Wertschöpfungsaufgaben übernehmen sollen. Schritt für Schritt wachsen die Maschinen dann zu Anlagen und manchmal sogar zu kompletten Fertigungsstraßen heran. Ungeachtet dieser Komplexitätszunahme verkürzen sich die Lieferzeiten. Einzelfertiger müssen damit klar kommen, dass sich das Entwicklungstempo ihrer Auftraggeber permanent beschleunigt. Mit ihren Maschinen und Anlagen stehen die Einzelfertiger jedoch ganz vorn in der Wertschöpfungskette. Einen Lieferverzug kann sich in dieser Situation niemand leisten.

Mehr Komplexität und immer kürzere Lieferfristen. Wie gehen die Unternehmen in der Praxis damit um?

Einzelfertiger müssen noch weitaus stärker vorausdenken, als sie es ohnehin schon gewohnt sind. Neben einem Höchstmaß an unternehmerischem Mut brauchen sie hierzu ein flexibles Projektmanagement, das ihre komplette Wertschöpfung abbildet. Erst dann lassen sich die erforderlichen Kapazitäten termingerecht und zu vertretbaren Kosten bereitstellen. Das aus ERP-Sicht Spannende daran ist, dass wir belastbare Planungsinformationen zu einem Zeitpunkt bereitstellen müssen, da das Produkt des Einzelfertigers längst noch nicht zu Ende entwickelt ist. Denn anders als in der Serienfertigung können Beschaffung, Fertigung und Montage nicht darauf warten, dass sämtliche Stücklisten und Arbeitspläne fertig auf dem Tisch liegen. Sie müssen ihre Prozesse deutlich früher starten. Häufig sogar noch vor dem eigentlichen Auftragseingang. Nur dann haben die Unternehmen eine realistische Chance, die immer enger gesetzten Liefertermine ihrer Kunden zu halten.

Das ife hat im Februar Impulstage zum Thema „Unikat trifft Serie. Losgröße 1+ auf der Überholspur“ veranstaltet. Inwiefern passen Serien- und Einzelfertigung zusammen? 

Nun, zunächst einmal gar nicht. Nichtsdestotrotz sehen sich aber auch Serienfertiger damit konfrontiert, dass sich die Wünsche ihrer Kunden immer weiter ausdifferenzieren. In der Regel beginnen die Unternehmen dann damit, sich ein Set an Standardvarianten zuzulegen. Eine wirkliche Annäherung an das Geschäft des Einzelfertigers geschieht allerdings erst dann, wenn entsprechend zahlungskräftige Kunden im Automotive-Bereich damit beginnen, ihre eigenen Vorstellungen einzubringen. Hier in der Premiumklasse müssen Serienfertiger dann zumindest teilweise auch als Manufaktur agieren. Sowohl in der eigenen Montage als auch in der Zusammenarbeit mit den Zulieferern. Insbesondere müssen sie lernen, die Bereiche Produktentwicklung, Fertigung, Beschaffung und Montage parallel zu steuern und nicht, wie sie es von der Serie her gewohnt sind, standardisiert sukzessive. Die Erfahrungen der Einzelfertiger mit eben diesen Anforderungen sind hier natürlich eine Menge wert. Um dem steigenden Interesse nach einem Erfahrungsaustausch gerecht zu werden, hat das ife die diesjährigen Impulstage daher ganz bewusst auch für Serienfertiger geöffnet.

Welche Trends dürfen produzierende Unternehmen nicht verschlafen, um für die Zukunft gewappnet zu sein?

Den alles entscheidenden Trend sehe ich darin, eine Unternehmenskultur zu schaffen, die es erlaubt, in kürzester Zeit zu echten Innovationen zu kommen. Einzelfertiger sind hier in ganz besonderer Weise gefordert. Denn in der Regel sind sie in Industrien verwurzelt, die auf eine lange Historie zurückblicken und neben all ihren Errungenschaften auch eine ganze Menge an Altlasten aufweisen. Es wäre vermessen zu behaupten, dass sich diese Altlasten in wenigen Jahren vollständig abbauen ließen. Wer agile Vorgehensweisen in seine Unternehmensorganisation einziehen will, braucht einen deutlich längerer Atem. Dennoch gibt es einen Weg, um das Innovationsmanagement bereits während des laufenden Transformationsprozesses spürbar zu beschleunigen: über neue Partnerunternehmen, die innovative Ideen generieren können, ohne von Altlasten ausgebremst zu werden. Die Chancen der vierten industriellen Revolution können so besser genutzt werden, als wenn man Einzelkämpfer ist.

Herr Deues, vielen Dank für das Gespräch.


Tags: Innovationen

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