Trends und Herausforderungen bei Fabriksoftware - Factory Innovation
Technologien

Trends und Herausforderungen bei Fabriksoftware

Lesedauer: 9 Minuten

06. August 2021

Als Fabriksoftware kann jedes vernetzte Informationssystem bezeichnet werden, das innerhalb von Produktion und Logistik in einer Fabrik eingesetzt wird. Dieser Beitrag beschreibt sechs Trends, die den Einsatz von Software in der Fabrik in der nächsten Zeit maßgeblich beeinflussen werden. Die Beschreibung der Trends erfolgt in aufsteigender Reihenfolge.

Der Einsatz von Fabriksoftware in den Fertigungsunternehmen hat stark zugenommen. Noch vor einigen Jahren erfolgte der Ausdruck der Fertigungsunterlagen aus dem ERP-System heraus. Der Auftrag landete im Postfach des Meisters und wurde irgendwann an die erste Maschine gelegt. Alle handschriftlichen Anmerkungen zum Fertigungsauftrag wurden in einer Klarsichthülle gesammelt und später dann großteils abgeheftet. Später, als sich herausstellte, dass die Erfassung der Ist-Daten aus der Fertigung nicht dem ERP-System überlassen werden konnte, kam die Systemgeneration der Manufacturing Execution Systeme hinzu [1]. Letztendlich kamen die Systeme nicht auf breiter Front zum Einsatz  – zu mächtig war die Sorge, dass der Aufwand zu groß werden und der Nutzen zu unklar bleiben würde. Auch waren im MES-Zeitalter noch keine Maschinen direkt angeschlossen. Dieses Bild hat sich gründlich gewandelt, nicht zuletzt aufgrund der beiden Trends: Verbilligung der Mikroelektronik und Verbesserung der Konnektivität. Leistungsfähige Minicomputer wie Arduino oder Raspberry Pi kosten inzwischen unter zehn Euro, einschließlich vielfältiger Möglichkeiten zur Integration in umfassendere Netze. Damit lassen sich Cyber-physische Systeme umsetzen, der Kernbaustein von Industrie 4.0. Die Beschreibung der Trends umfasst drei, deren Wirkung derzeit noch eher verhalten zu spüren ist (Trend 4, 5 und 6) und drei Trends, die bereits jetzt sehr starke Auswirkungen auf jede Fabrik haben.

 

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Bild 1: Neue Geschäftsmodelle durch Überschreiten der Fabrikgrenze [2]

Trend 6: Überschreiten der Grenze der Fabrik

Aufgrund der beschränkten Einsatzbereiche für Fabriksoftware in der Vergangenheit bestanden weder Möglichkeiten noch Ideen für eine Informationsverarbeitung entlang der logistischen Kette, die auch physische Objekte außerhalb der Fabrik als informationsverarbeitende Einheiten einbezog. Das hat sich erheblich verändert. In der Fabrik selbst lassen sich durchaus durch Vorantreiben des Informationssystemeinsatzes OEE-Steigerungen von drei bis fünf Prozent erzielen. Gelingt es jedoch, eine durchgängige Informationsverarbeitung bis zu den Kunden des Kunden aufzubauen, so ergeben sich völlig neue Geschäftsmodelle (Bild 1). Ein Softwareanbieter kann seine Software an 1000 Kunden für 1000 Euro im Monat verkaufen und erzielt dadurch zwölf Miollionen Umsatz im Jahr. Gelingt es ihm jedoch, zusätzlich für jeden seiner 1000 Kunden, die jeweils 300 Geräte haben, weitere Software im Umfang von zehn Euro je Gerät zu verkaufen (sei es zur Vereinfachung der Wartung, zur Senkung der Energiekosten o. ä.), dann vervierfacht sich sein Umsatz!

Trend 5: Virtual und Augmented Reality

Der Einsatz von virtuellen, computergenerierten Umgebungen (VR) bzw. des Einblendens von elektronisch generierten Informationen in Realweltabbildungen ist an sich nicht neu. Auch hier zeichnet sich ein Trend erst ab, seit die Hardware deutlich preiswerter geworden und die Software leichter verfügbar (z. B. Apples AR-Kit) und deutlich einfacher zu bedienen ist. Überall dort, wo es auf eine gute visuelle Darstellung ankommt, werden inzwischen VR- oder AR-Lösungen erwogen [3]. Ihr Einsatzbereich reicht von Montagehilfen über Monitoringmöglichkeiten entlang von Geschäftsprozessen bis zur Planung neuer oder umgebauter Fabrikanlagen (Bild 2).

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Bild 2: Einsatzmöglichkeiten von VR/AR in der Fabrik (Beispiele)

Unsere Forschung zeigt aber, dass nicht jede mögliche Anwendung auch sinnvoll ist. Ermüdung der Werker kann gegen einen schichtlangen Einsatz von AR-Brillen sprechen. Bei der Untersuchung von Einbaumöglichkeiten, etwa von Rohren im Schiffbau, zeichnen sich VR-Techniken als vorteilhaft aus, weil es dort im Gegensatz zu AR-Techniken möglich ist, „störende“ Ansichten der Realität auszublenden. AR zeigt das gelagerte Material vor dem Rohrdurchbruch, VR nicht. Auch bei Montageassistenzsystemen wird nicht jeder Arbeitsgang durch AR verbessert.

Trend 4: Real-time Big Data

Durch den verstärkten Einsatz von Mikrocomputern in Werkstücken, Ladungsträgern und Maschinen sowie durch deren Vernetzung nimmt die Menge der verfügbaren Ist-Daten aus der Produktion drastisch zu. Dies ermöglicht neue Einsatzbereiche für analytische Verfahren, die zuvor nur aus dem E-Commerce bekannt waren [4]. Analytische Verfahren zeichnen sich durch den Einsatz multivariater Statistik zu Zwecken des Monitoring, der Simulation und der Prognose aus. Ein sinnvoller und zukünftig noch weiter an Bedeutung gewinnender Ansatz ist die Nutzung von aus Big Data gewonnenen Erkenntnissen für die unmittelbare Steuerung der Fabrik. Reinhart hat dies am Beispiel der Feinplanung einer Anlage mit hohem Energieverbrauch vorgestellt [5]. Durch stundengenaue Anpassung des Fertigungsprogramms an der energieintensiven Anlage konnte die Lastanforderung um bis zu 40 Prozent reduziert werden. Wird berücksichtigt, dass der Strompreis im Laufe eines Tages zwischen nahezu 0 Euro pro MWh und 90 Euro pro MWh schwanken kann, wird deutlich, warum prognostische Fähigkeiten hier sehr große Einsparpotenziale erschließen können.

Trend 3: Kollaboration Robotik

Der gemeinsame Einsatz von Menschen und Robotern in der Fertigung ohne Schutzzäune ist inzwischen auch für kleine und mittlere Unternehmen realisierbar. Aufgrund der niedrigeren Arbeitsgeschwindigkeiten von kollaborativ eingesetzten Robotern ist deren Wirkung isoliert betrachtet etwas geringer. Dies kann jedoch mehr als kompensiert werden, wenn es gelingt, die Flexibilität des Einsatzes der kollaborativen Roboter zu erhöhen. Dabei kommt der Gestaltung der Programmieroberfläche eine entscheidende Bedeutung zu. Waren dies früher Spezialprogramme für langjährig trainierte Spezialisten, etwa beim nach China verkauften ehemaligen deutschen Roboterhersteller Kuka, so machen es neue Anbieter auf dem Markt vor, wie leicht und einfach die Programmierung kollaborativer Roboter sein kann, etwa Universal Robotics. Hier werden wir noch eine drastische Verschiebung der Marktanteile und Einsatzbereiche sehen, einfach aufgrund besserer Bedienbarkeit und niedrigerer Einsatzkosten.

Trend 2: Künstliche Intelligenz

Inzwischen steht ein umfassender Technologiebaukasten für den Einsatz künstlicher Intelligenz in der Fabrik zur Verfügung (Bild 4).

Dieser umfassende Technologiebaukasten ist keinesfalls neu, wird aber durch die Verfügbarkeit von großen Datenmengen und der Fähigkeit, zwischen allen Objekten in der Fabrik Informationen auszutauschen, in seiner Nutzung deutlich vorangetrieben. Überall suchen Unternehmen mit Produktionsbetrieb nun nach Einsatzmöglichkeiten für Anwendungen der Künstlichen Intelligenz. Folgende Bereiche werden wohl als erstes wachsen:

Im Bereich der Datenhaltung kommt der Strukturentdeckung und der Klassifikation von Vorfällen (Störung oder reguläre Abweichung?) zunehmend große Bedeutung zu. Auch ist es möglich, durch KI die leidige Stammdatenproblematik [6] deutlich zu entschärfen.

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Bild 3: Nutzung von Real-time Big Data zur Energieersparnis [5]

Im Gebiet der Disposition wird es zu deutlich flexibleren Workflows kommen, weil nicht mehr der Mensch, sondern die KI entscheidet, welcher Pfad des Workflows zu beschreiten ist. Workflows in der Fabrik konnten bisher nicht die gleiche Dynamik wie bei Büroanwendungsfällen entfalten, weil die Heterogenität der Fälle in der Fabrik ungleich größer ist. KI wird dieses Problem in Zukunft entschärfen und damit die Qualität der Prozesse in der Fabrik deutlich zu steigern vermögen.

Das Reporting wird durch KI-gestützte Hinweis- und Warnfunktionen deutlich beschleunigt und qualitativ verbessert werden.

Im Bereich der Auswertungen sind zukünftig durch KI auch Echtzeit-, Trend- und Fehleranalysen möglich, die bisher aufgrund mangelnder menschlicher Kapazität oder Kompetenz nicht möglich waren.

Schließlich wird durch KI der neue Bereich Vorhersagen mit Anwendungen gefüllt, die einen echten Mehrwert für den Betrieb der Fabrik und des Unternehmens bringen, etwa zur Instandhaltung, zum Kundenverhalten oder zur Verbesserung etablierter Workflows. KI ermöglicht quasi einen eingebauten kontinuierlichen Verbesserungsprozess.

Trend 1: Internet of Things

Würden nur Pressemeldungen gezählt werden, wäre vermutlich KI der Trend Nr. 1. Seriöse Forscher zählen jedoch auch Anwendungen und hier liegt IoT weit vorn [7]. Zudem ist IoT inzwischen eine Basis-Technologie, die eine wirtschaftliche Anwendung der zuvor geschilderten Trends erst möglich macht. Umso wichtiger ist es daher, die verschiedenen vielfältigen Anwendungsfälle für IoT nicht isoliert zu betrachten, sondern deren Zusammenwirken. Vor allem ist darauf zu achten, eine Plattform zur gemeinsamen Verwaltung von Applikationen, Geräten, Zugängen, Datenspeicherung, Kommunikation zu etablieren, die die Erschließung der weiteren hier beschriebenen Trends nicht behindert.

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Bild 4: Technologiebaukasten für KI in der Fabrik

Herausforderungen

Um diese Trends in der Fabrik und deren positive Auswirkungen auf Wandlungsfähigkeit, Effizienz und Kosten erschließen zu können, sind drei Herausforderungen zu überwinden: die Etablierung eines Digitalen Zwillings für jedes Produkt, jede Kapazität und jede Ressource, die Beherrschung des Themas Fabriksicherheit [8] sowie die Reduzierung des dramatischen Fachkräftemangels, idealerweise durch Weiterbildung. Wem es gelingt, diese Herausforderungen zu bewältigen, der wird in seiner Fabrik sehr große Fortschritte machen können.

 

 

 

Schlüsselwörter:

Fabriksoftware, Virtual Reality, Augmented Reality, Real-Time Big Data, Kollaboration Robotik, Künstliche Intelligenz, Internet of Things

Literatur:

[1] Schumacher, J.: Neue Wege zur effektiven Fabrik. Wertschöpfung ohne Verschwendung durch den Einsatz von MES, PPS Management 3/2004, S. 17-19
[2] Gronau, N.: Der Einfluss von Cyber-Physical Systems auf die Gestaltung von Produktionssystemen, Industrie Management 3/2015, S. 16-20
[3] Schenk, M. u. a.: Augmented Reality. Ein neuer Ansatz für Assistenzsysteme in der Produktion, Industrie Management 2/2010, S. 33-36
[4] Gronau, N.: Analytic Manufacturing. Die Industrie hinkt bei der Nutzung von Big Data hinterher, ERP Management 3/2014, S. 33-36
[5] Reinhart, G.; Graßl, M.: Energieflexible Fabriken. Maßnahmen zur Steuerung des Energiebedarfs von Fabriken. Online: http://publica.fraunhofer.de/documents/N-246969.html [letzter Abruf 12.4.2019]
[6] Gronau, N.: Stammdatenstrategie in Unternehmensverbünden, ERP Management 4/2016, S. 19-21
[7] Gronau, N. (Hrsg.): Industrial Internet of Things in der Arbeits- und Betriebsorganisation. GITO- Verlag, Berlin 2017
[8] Lass, S., Kotarski, D.: IT-Sicherheit als besondere Herausforderung von Industrie 4.0. In: Kersten, W.; Koller, H.; Lödding, H.: Industrie 4.0: wie intelligente Vernetzung und kognitive Systeme unsere Arbeit verändern. Berlin 2014, S. 397-419.







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