Dipl.-Ing. (FH) Bernd Balzer ist Leiter der Abteilung Engineering und Fertigung Hydraulikzylinder Bosch Rexroth AG mit Standort in Lohr a. Main. In dieser Funktion ist er sowohl für die operative Einheit Hydraulikzylinder Standort Lohr sowie beratend bei der Planung und Einführung neuer Produktionssysteme der weltweitenZylinderstandorte mit Schwerpunkt China tätig.
Herr Balzer, das Thema „Kleinserienfertigung“ gewinnt immer mehr an Bedeutung. Wie schätzen Sie deren Rolle ein? Welche Folgen gibt es für die Unternehmen?
Die Kleinserienfertigung spielt durch die zunehmende Individualisierung der Produkte eine immer größere Rolle. Die Individualisierung wird durch die steigende Vitalität der Produkte getrieben, welche wiederum durch den Kundenwunsch nach „unique selling points“ bei seinen Produkten gefördert wird. „Unique selling points“ eröffnen die Möglichkeit der Differenzierung im globalen Wettbewerb und bieten damit Mehrwert für den Kunden. Reine Standardprodukte – Commodities – verlieren in Hochkostenstandorten an Bedeutung. In Wachstumsmärkten wie beispielsweise Asien ist man mit Commodities ohne Mehrwert für den Kunden fast chancenlos.
Die Kleinserienfertigung wird also zukünftig für viele Unternehmen zur Pflicht werden. Stellt sie dabei höhere Anforderungen an Produktionsplanung und -management als an die von Großserien?
Sie stellt andere Anforderungen als die Großserienfertigung. In der Kleinserienfertigung wird die Durchlaufzeit zur dominierenden Kenngröße, während in der Großserienfertigung die Maschinenauslastung die dominierende Kenngröße ist. Als Prinzip kann man wie folgt unterscheiden: in der Großserienfertigung wartet das Teil, bis es auf die Maschine kommt, in der Einzelfertigung wartet die Maschine, bis das Teil kommt.
Hat die Wirtschaftskrise dabei einen besonderen Einfluss?
Die durch die kurze Durchlaufzeit bedingte Verringerung von Beständen gewinnt in der Wirtschaftskrise immer mehr an Bedeutung. Neben Beständen werden auch Kenngrößen wie Flexibilität und frühe Fehlererkennung durch kurze Durchlaufzeiten positiv beeinflusst.
Basis für kurze Durchlaufzeiten sind stabile Prozesse. Die Reduzierung der Bestände ergibt mehr Spielraum durch Verbesserung des Cash flow. Eine Halbierung der Durchlaufzeit bedeutet im Prinzip eine Halbierung des WIP Bestandes (work in progress) und dieses wiederrum eine Reduzierung des gebundenen Kapitals.
Herr Balzer, Sie sind Verantwortlich für den Bereich Hyraulikzylinder bei der Bosch Rexroth AG, welche ja auch in Kleinserie hergestellt werden. Können Sie uns bitte etwas über ihr Produktspektrum erzählen?
Exemplarisch sei hier die Varianz eines Hydraulikzylinders beschrieben. Eine Katalogbaureihe kann aus 14 Millionen Varianten konfiguriert werden. Lediglich 30% der Varianten haben eine Wiederholhäufigkeit von mehr als 10 Wiederholvorgängen pro Jahr. Kenngrößen wie Kolbedurchmesser, Kolbenstangedurchmesser, Hub, Befestigungsarten und Anschlussgrößen sind zwar in Normen standardisiert werden aber anwendungsbezogen anhand der Einsatzparameter ausgewählt.
Das klingt nach einer hohen Variantenvielfalt. Wie gehen Sie mit dieser um?
Zur Beherrschung der Variantenvielfalt sind Produkt- bzw. Variantenkonfiguratoren geeignete Hilfsmittel. Wo nicht möglich, kann durch geeignete Clusterbildung die Komplexität verringert werden. Die Clusterbildung muss jeweils zwischen Kunden, Engineering und der kompletten Wertschöpfungskette abgestimmt werden, um die Produktvarianz in Produktion und Beschaffung zu reduzieren.
Um welche kleinserien-spezifischen Herausforderungen müssen Sie sich am häufigsten kümmern?
Wir nennen Kleinserienfertigung auch Kundeneinzelfertigung. Den Prozess nennen wir ETO (engineered to order). Eigenheit des ETO-Geschäftes ist die Erweiterung der Prozesskette von Logistik und Produktion um Verkauf und Engineering. Die Prozesskette sieht dabei wie folgt aus:(siehe Bild 1): Die größte Herausforderung durch die komplexe Prozesskette ist die Lieferperformance.
Da alle Aktivitäten auftragsbezogen sind und die Durchlaufzeit extrem kurz sein soll, schlagen sich Abweichungen in den Einzelprozessen multiplizierend in der Gesamtprozesskette nieder. Abweichungen in den Einzelprozessen müssen frühzeitig erkannt und durch Puffer abgefedert werden, welche allerdings die Durchlaufzeit negativ beeinflussen. Die Größe der Puffer kann aber auch als Kenngröße zur kontinuierlichen Verbesserung genutzt werden. Ziel ist es, die Schwankungen in den Prozessen durch Schwankungen in der Puffergröße kurzfristig visuell zu erkennen.
Welche Lösungsansätze verfolgen Sie?
Die Lösungsansätze sind Stabilisierung der Einzelprozesse. Nur stabilen Einzelprozesse versprechen einen stabilen Gesamtprozess. Werkzeuge zur Stabilisierung sind:
• Standardisierung
• Eindeutigkeit der Prozesse
• Entkoppelung der Prozesse (wenn notwendig)
All diese Handlungsfelder erfordern starkes Management in der Prozesskette. Abweichungen müssen erkannt und in kurzfristigen Regelzyklen abgestellt werden um den Gesamtprozess nicht zu gefährden.
Zur Analyse der Wertströme dienen VSM (Value Stream Mapping) und VSD (Value Stream Design). Hier wird aus der Analyse des Istzustandes (VSM) ein Sollzustand (VSD) entwickelt. Da dieser Prozess tiefgehende Änderungen in der Wertschöpfungskette erwarten lässt, sind, wie bei jedem Änderungsprozess, möglichst alle Funktionen der betreffenden Wertschöpfungskette einzubeziehen. Viele Änderungsprozesse scheitern gerade an der Nicht-Einbeziehung der Mitarbeiter, da in der Umsetzungsphase Hintergründe und Akzeptanz fehlen.
Herr Balzer geht zur Tafel und malt folgende Graphik (Siehe Bild 2) an und erklärt: Zunächst gibt der Kunde den Auftrag an LOG (1). LOG plant im Anschluss den Auftrag in einer Planungstafel (Heijunka Board) ein (2). Diese Tafel steuert widerum den ersten Prozess (3). Die Prozesse untereinander sind dabei mit einem definierten FIFO-Puffer verbunden (4). Abschließend liefert der letzte Prozess in die Kundenbereitstellung (5).
Dabei werden folgende Punkte beachtet: zunächst sind alle Prozesse durch FIFO-Puffer entkoppelt. Sollte es an einem Prozess Probleme geben, sind die folgenden nicht sofort von dieser Störung betroffen. Durch die definierte Größe der FIFO-Puffer sind zudem die Bestände in der Produktion, wie auch die Durchlaufzeit eines Produktes definiert. Die Einlastung aus der Plantafel in den ersten Prozess geschieht nur dann, wenn der Puffer freigibt. Zudem sind alle Prozesse standardisiert. Durch gezielte Beobachtung ist deshalb ein Soll-Istabgleich möglich, durch den Abweichungen schnell erkannt werden können.
Das Lean Manufacturing wurde ja ursprünglich für die Großserienfertigung in der Automobilindustrie gestaltet – können die Methoden auch für Kleinserien angewendet werden? Welche speziellen Herausforderungen gibt es dabei?
Die Prinzipien des Lean Manufacturing wie Fehlervermeidung, Prozessorientierung, Vermeidung von Verschwendung sowie ständige Verbesserung gewinnen in der Kleinserienfertigung immer mehr Bedeutung. Eine große Herausforderung bei der Kleinserienfertigung ist dabei die Synchronisation der Fertigung, welche von einer „fließenden Fertigung“ in minimalen Stückzahlen ausgeht.
Einschränkungen bei der „getakteten Fließfertigung“ liegen in der Auslastung der Einzelprozesse. Fokus bei der Einführung solch eines Produktionssystems sollte die optimale Abtaktung der Prozesse und die Reduzierung der Rüstvorgänge haben.
Es entsteht häufig der Konflikt schnelle Durchlaufzeit versus optimale Auslastung. Wobei ein Umdenkungsprozess in Richtung schnelle Durchlaufzeit stattfindet. In der Prozesskette (auch Wertstrom genannt) findet eine Trennung von wertschöpfenden und nicht-wertschöpfenden Prozessen statt. Mitarbeiter in der Prozesskette übernehmen nur noch wertschöpfende Tätigkeiten, während Materialfluss und Bereitstellungen von der Logistik übernommen werden.
Gibt es allgemeine Verbesserungsansätze, welche auf die Kleinserienproduktion übertragen werden können?
In der Kleinserienfertigung ist in den organisatorischen Einheiten die Verantwortung der kompletten Prozesskette möglichst zu verankern (Verringerung von Schnittstellen).
Hier bieten wertstromorientierte Strukturen gegenüber funktionalen Strukturen weit bessere Vorraussetzungen. Funktionale Strukturen haben den Nachteil häufiger Schnittstellen und damit verbunden Brüche in Information und Verantwortung. Die Gefahr ist die Optimierung von Einzelprozessen welche aber auf den Gesamtprozess keine positiven Auswirkungen haben. In wertstromorientierten Strukturen sind klare Verantwortungen mit Fokus auf den Gesamtprozess des Wertstromes definiert. Optimierung von Einzelprozessen werden nur durchgeführt, wenn dadurch auch der Gesamtprozess verbessert wird.
Herr Balzer, vielen Dank für dieses spannende Gespräch!