Aufbauend auf bestehenden Konzepten der Materialwirtschaft sowie der Idee der gemeinsamen Planung, Prognose und Bestandsführung (engl. kurz CPFR) wird in diesem Beitrag ein Ansatz für die kollaborative Materialbedarfsplanung in der flexibilitätsorientierten Prozessindustrie vorgestellt. Die Anwendungsmöglichkeiten werden anhand einer Wertschöpfungskette aus der Aluminiumindustrie skizziert.
Für eine Supply Chain stellt Flexibilität einen der wesentlichen kritischen Erfolgsfaktoren dar, um unter komplexen Geschäftsbedingungen in einem dynamischen Umfeld mit kurzen Innovations- und Produktlebenszyklen erfolgreich sein zu können. Damit die zunehmende Unsicherheit und die Komplexität bewältigt werden können, werden mehr Informationen benötigt. Ein Informationsaustausch zwischen den Unternehmen hat sich hierbei als effektive Strategie herausgestellt, um den Informationsfluss entlang der Supply Chain zu verbessern. Die dazu entwickelten Supply-Chain-Tools und Konzepte, wie Efficient Consumer Response (ECR), Vendor Managed Inventory (VMI) oder Collaborative Planning Forecasting and Replenishment (CPFR) wurden vor allem im Retailsektor eingeführt, und der damit verbundene Informationsaustausch brachte Unternehmen wie Wal-Mart und Procter & Gamble die gewünschten Flexibilitätssynergien.[1] Die weitere Untersuchung der Potentiale dieser Konzepte abseits von Kooperationen zwischen Industrie und Handel war bis jetzt jedoch noch weniger Gegenstand der Forschung. Aufgrund der Besonderheiten der Prozessindustrie besteht besonders in diesem Industriezweig mit Zunahme der Variantenvielfalt ein Bedarf an neuen Lösungen, da die aus der diskreten Fertigung angewandten Planungskonzepte in ERP-Systemen und Lean-/Just-in-time-Konzepte nicht zur Gänze übernommen werden können.[2] Schiewer stellte bereits fest, dass herkömmliche Materialbedarfsplanungssysteme vor allem für flexibilitätsorientierte Produktionssysteme in der Prozessindustrie ohne aufwändige Adaptionen keine befriedigende Lösung bringen, und daher neue Konzepte erforderlich sind.[3] Vor diesem Hintergrund wurde der Einsatz von kollaborativen Planungsansätzen anhand einer Wertschöpfungskette in der Aluminiumindustrie untersucht, welche im Anwendungsbeispiel durch eine hohe Flexibilität und Variantenvielfalt charakterisiert ist.
Wertschöpfungskette in der Aluminiumindustrie
Die in Bild 1 vereinfacht dargestellte Supply Chain der Aluminiumindustrie ist ebenso wie die Wertschöpfungskette in der Stahlindustrie [4] durch unterschiedliche Fertigungsverfahren charakterisiert. Während die Gießerei und die Warmphase typischerweise zur Prozessindustrie zu zählen sind, gehört das Kaltwalzen und die Adjustage zur klassischen Stoffumformung und damit zur Fertigungsindustrie. Angefangen von der Gießerei bis hin zum Aluminiumhalbzeug durchläuft ein Produkt unterschiedliche Produktionsstrukturen. In der Gießerei ist die Produktionsstruktur konvergierend, d.h. aus unterschiedlichen Einsatzstoffen wie Primäraluminium, Schrottsorten und Legierungselementen wird ein Walzbarren gegossen. Die Produktionsplanung erfolgt durch eine Chargen- und Kampagnenplanung, in der unterschiedliche Legierungskategorien und Dimensionen sowie technologische Restriktionen zu berücksichtigen sind.
Bild 1: Wertschöpfungskette in der Aluminiumindustrie (in Anlehnung an [4])
Im Warmwalzwerk ist die Produktionsstruktur ebenfalls divergierend, da aus einem Walzbarren je nach gewünschter Dicke entweder Platten, Bleche oder Bänder (Coils) hergestellt werden können. Das Walzbarrenlager dient als Puffer und ermöglicht eine gewisse quantitative Flexibilität, um Schwankungen oder Verschiebungen von Produktionsmengen zu kompensieren. Die Produktstruktur im Walzwerk ist typisch für die Prozessindustrie im Gegensatz zur diskreten Fertigungsindustrie relativ einfach und mit Ausnahme von plattiertem Aluminiumhalbzeug einstufig. Als Rohmaterial geht in ein Endprodukt immer ein Walzbarren ein. Im Kaltwalzwerk erfolgt nicht nur die weitere kundenspezifische Dickenreduktion der Bänder, sondern auch weitere erforderliche Bearbeitungsschritte wie diverse Wärme- oder Oberflächenbehandlungen.
Collaborative Material Requirement Planning
Collaborative Supply Chain Management (CSCM) Ansätze sind definiert als eine aktive auf die Erzielung von Win-win-Situationen ausgerichtete Zusammenarbeit zwischen Unternehmen in der Supply Chain. CSCM-Konzepte umfassen kollaborative Abstimmprozesse durch den Austausch von definierten Daten, indem beide Partner mit definierten Rechten und Pflichten in den Abstimmungsprozess eingebunden sind, der sowohl auf der Planungs- als auch auf der Ausführungsebene stattfinden kann. [5] Das dazu gehörende Collaborative Planning, Forecasting and Replenishment kann übersetzt werden als kooperatives Planen, Prognostizieren und Managen von Warenströmen und Beständen. Mit Hilfe eines Prozessmodells werden die drei Phasen einer gemeinsame Planung, Prognose und Bestandsmanagement beschrieben. Basierend auf einem Kooperationsvertrag und einem gemeinsamen Geschäftsplan sollen dabei möglichst genaue Bedarfsprognosen von einem Planungsteam erarbeitet werden. Durch einen Datenaustausch mit aktualisierten Prognosen zwischen Käufer und Verkäufer sollen Lagerbestände reduziert sowie Versorgungsengpässe vermieden werden. Entscheidend für den Erfolg der Zusammenarbeit ist dabei die vertrauensvolle Zusammenarbeit der CPFR-Partner.
Bild 2: Vorgehensmodell für die
kollaborative Materialbedarfsplanung
Auch wenn diese Methode prinzipiell in allen Industriebranchen anwendbar ist, um bei schwankenden Nachfragen und anderen Marktsignalen erfolgreich agieren zu können, finden sich die meisten CPFR-Anwendungen in der Nahrungsmittelindustrie, Bekleidungsindustrie und allgemein im Handel. [6] Da diese CPRF-Anwendungen ursprünglich für den Handel konzipiert wurden, sind für die Anwendung in der Prozessindustrie entsprechende Anpassungen erforderlich. In Anlehnung an das CPFR-Modell sind in Bild 2 die einzelnen Phasen für eine kollaborative Materialbedarfsplanung (engl. kurz CMRP für Collaborative Material Requirement Planning) dargestellt. Wesentlich scheint dabei die Initiierung eines Prozesses zwischen den Partnern in der Supply Chain, der die gemeinsame und fortschreitende Steigerung des Wissens zum Ziel hat. Seifert bezeichnet diesen Prozess auch als „Infopartnering“, der die Basis für einen Schwenk von der Wertschöpfungskonfrontation hin zu einer Wertschöpfungskooperation bildet. [7] In der Planungsphase erfolgt dazu in einem ersten Schritt eine Analyse der Materialwirtschaft, um potentielle Produktfamilien und Kunden zu identifizieren. Im nächsten Schritt erfolgt gemeinsam mit dem Kunden ein Neudesign des Planungsprozesses. Vergangene Verbrauchsdaten aus einer Materialwirtschaftsanalyse (ABC/XYZ) können dabei genauso wie eine Wertstromanalyse eine gute Diskussionsgrundlage beim Kunden bilden.
Bild 3: Collaborative Material Requirement Planning
Zur Verbesserung der Planungsgenauigkeit und Steigerung der Liefertreue muss der Kunde bereit und in der Lage sein, eine Vorschau für die benötigten Vormaterialien zum Zeitpunkt des ersten Variantenbildungspunktes auf Basis seiner Verbrauchsprognosen zu liefern (siehe Bild 3). Der Planungshorizont der Vorschau muss dabei zumindest die Gesamtdurchlaufzeit betragen, damit sich der Vorschaueindringungspunkt (kurz FPP Forecast Penetration Point) vor den ersten Variantenbildungspunkt V1 verschiebt. In Abstimmung mit dem Lieferanten erfolgt damit eine genaue Bedarfsprognose für die einzelnen Kampagnen. Anstelle einer sonst erforderlichen stochastischen Sekundärbedarfsermittlung erfolgt so eine quasideterministische Ermittlung der Sekundärbedarfe. Die Vormaterialvorschau erfolgt dabei nicht auf Ebene der vollspezifizierten Endprodukte, sondern auf einer aggregierten Ebene entsprechend des ersten Variantenbildungspunktes. Für ein Walzwerk sind dies die variantenbildenden Merkmale Legierung und Barrendimension. Die Fixierung der weiteren variantenbildenden Merkmale, wie beispielsweise Enddicke und -breite, ist erst zum Zeitpunkt des Kundenauftrags notwendig, der den Primärbedarf mit der endgültigen Spezifikation fixiert.
Da sich der Kunde zum Zeitpunkt der Vormaterialprognose noch nicht auf die endgültige Enddicke und -breite festlegen muss, erhöht dies die Flexibilität in einem gewissen Korridor. Zusätzlich zu den aus dem klassischen CPFR-Modell abgeleiteten Schritten wird nach der Realisationsphase eine Wirkungskontrolle durchgeführt. Durch einen Soll-Ist-Vergleich muss sichergestellt werden, dass der neue Planungsprozess zu den gewünschten Verbesserungen führt.
Fazit
Abschließend kann festgehalten werden, dass das Konzept einer kollaborativen Planung als Alternative zur stochastischen Materialdisposition in der flexibilitätsorientierten Prozessindustrie angewandt werden kann. Wenn es in der Supply Chain gelingt den Informationsaustausch durch Kollaboration besser abzustimmen, können logistische Zielgrößen, wie Bestände und Liefertreue, verbessert werden ohne wesentliche Einschränkung der Flexibilität.