Einsatz von digitalen Technologien in Lernfabriken
Use Cases der Prozesslernfabrik „Center für industrielle Produktivität“
Lesedauer: 8 Minuten

Lernfabriken bieten als realistische Produktionsumgebungen vielfältige Möglichkeiten zur Weiterbildung von Beschäftigten sowie zur anwendungsnahen Forschung. Gerade in den letzten Jahren werden zur Umsetzung der digitalen Produktion Technologien in Lernfabriken implementiert. Immer mehr Unternehmen und Universitäten entscheiden sich für den Betrieb einer Lernfabrik und verwenden häufig neue digitale Technologien, um deren Einsatz zu schulen oder diese zu erforschen.
In diesem Beitrag wird das Konzept Lernfabrik beschrieben und die in Lernfabriken zum Einsatz kommenden digitalen Technologien in einer Übersicht dargestellt. Als konkretes Beispiel einer Lernfabrik mit digitalen Komponenten wird die Prozesslernfabrik „Center für industrielle Produktivität“ der Technischen Universität Darmstadt vorgestellt. In der Prozesslernfabrik werden seit 2007 Unternehmen in einem Kooperationsprogramm zur schlanken, digitalen Produktion geschult und beraten. Die Use Cases in der Prozesslernfabrik werden im Anschluss näher beschrieben sowie das Kooperationsprogramm vorgestellt.
Lernfabriken
Zur kontinuierlichen Verbesserung von Produktionssystemen spielen die Kompetenzen der Beschäftigten eine entscheidende Rolle. Um dieser Herausforderung zu begegnen, wurden in den letzten beiden Jahrzehnten zahlreiche „Lernfabriken“ von Forschungsinstituten und Industrieunternehmen gestaltet und implementiert. Lernfabriken bieten eine realitätsnahe Umgebung, um benötigte Kompetenzen praktisch und interaktiv zu entwickeln [2]. In Lernfabriken findet das „Lernen“ in einer eigens dafür gestalteten „Fabrik“ in einem mehrstufigem Wertstrom statt. Im Gegensatz zu industriellen Fabriken liegen die Primärziele von Lernfabriken in der beruflichen Weiterbildung, der universitären Lehre und der anwendungsnahen Forschung [3] (siehe Bild 1). Dabei wird durch ein didaktisches Konzept eindeutig festgelegt, welche Lerninhalte auf welche Weise betrachtet werden. Auf Basis des didaktischen Konzepts werden Lernende dabei praxisnah zum selbstorganisierten Handeln befähigt [4]. Gerade das aktive Durchführen eigener Handlungen in einem realitätsnahen und gleichzeitig sicheren Umfeld ermöglicht effektives Lernen [5].

Am Institut für Produktionsmanagement, Technologie und Werkzeugmaschinen (PTW) der Technischen Universität Darmstadt wurde der Ansatz zur Gestaltung von Lernfabriken entwickelt, der weltweit am häufigsten eingesetzt wird [6]. Das PTW kooperiert mit Unternehmen und anderen Forschungseinrichtungen bei der Gestaltung neuer Lernfabriken in gemeinsamen, häufig internationalen Projekten. [7, 8]
Schlüsseltechnologien testen
Technologien können als Innovationen und Entwicklungen betrachtet werden, die klassische Fertigungs-verfahren verändern oder ablösen und damit zu Leistungssteigerungen in der Produktion führen [9]. Basierend auf ihrem Lebenszyklus können vier Technologietypen unterschieden werden [10]:
![Einsatz von digitalen Technologien in Lernfabriken 3 Bild 2: S-Kurve der Technologien [11]](https://factory-innovation.de/wp-content/uploads/2022/07/image-17.png)
- Schrittmachertechnologien befinden sich in der Entstehungsphase, können jedoch erst von Spezialisten genutzt werden.
- Schlüsseltechnologien sind bereits weiterentwickelt, jedoch noch nicht allgemein zugänglich, weshalb sie zur Positionierung gegenüber dem Wettbewerb genutzt werden.
- Basistechnologien sind allgemein zugänglich und weit verbreitet.
- Verdrängte Technologien wurden aufgrund ihrer geringeren Leistungsfähigkeit von Schlüsseltechnologien verdrängt. [11]

In der Produktion wird der Fokus bei aktuellen Diskussionen häufig auf digitale Technologien im Rahmen von Industrie 4.0 gelegt [12]. Hierbei handelt es sich in den meisten Fällen um Schlüsseltechnologien, da diese noch nicht allgemein verfügbar sind. Durch den frühen Einsatz dieser Technologien versuchen Industrieunternehmen, einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen [11]. Lernfabriken bieten die Möglichkeit, Schlüsseltechnologien in einer frühen Lebenszyklusphase zu testen. Darüber hinaus kann der Einsatz von Basistechnologien geschult werden. Außerdem bieten digitale Technologien die Möglichkeit, den Lernprozess zu flexibilisieren sowie zu personalisieren.
Technologiebereiche in Lernfabriken
Im Rahmen einer Recherche wurden die bestehenden Lernfabriken nach dem Einsatz von Industrie 4.0-Technologien analysiert. Dazu wurden zum einen die Artikel der Lernfabrik-Konferenzen (Conference on Learning Factories, kurz: CLF) seit 2011 genutzt und um Recherchen auf Google Scholar sowie den Internetauftritten der Lernfabriken ergänzt. Dabei konnten 71 Lernfabriken weltweit identifiziert werden, von denen 35 in Deutschland und 10 in Österreich liegen.

Um den Einsatz der Technologien in den Lernfabriken zu untersuchen, wurde basierend auf bisherigen Arbeiten [13, 14, 15] eine Einteilung in zehn Technologiebereiche gewählt, die jeweils mehrere Technologien zusammenfassen. Bild 3 zeigt die relative Anzahl an Lernfabriken in den Bereichen mit mindestens einer (roter Balken) bzw. mindestens zwei Technologien (grauer Balken). Zu den am häufigsten abgedeckten Technologiebereichen mit mindestens einer Technologie zählen zum einen die Datenaufnahme (mit 85 %), Transport- und Automatisierungssysteme (mit 84 %) sowie Datenmanagement und -visualisierung (mit 72 %). Am seltensten wird der Bereich „Cybersecurity“ betrachtet. Durchschnittlich hat sich gezeigt, dass in den Lernfabriken 6,18 von 10 Technologiebereichen betrachtet werden. [16]
Prozesslernfabrik „Center für industrielle Produktivität“
Als konkretes Beispiel einer Lernfabrik, in der bereits vielfältige Technologien in der Produktion eingesetzt werden, wird im Folgenden die Prozesslernfabrik „Center für industrielle Produktivität“ (CiP) betrachtet. In der Prozesslernfabrik werden seit 2007 Methoden der schlanken und digitalen Produktion geschult und erforscht. Damit ist die Prozesslernfabrik CiP eine der ersten Lernfabriken in Europa [17].
Die praxisnahen Weiterbildungsangebote erfolgen anhand eines realitätsnahen Wertstroms vom Wareneingang des Rohmaterials bis zum Versand der Fertigwaren auf über 400 m². Dabei wird ein Pneumatikzylinder sowohl kundenindividuell als auch in Varianten produziert.
In den Schulungen wurden bisher mehr als 2 000 Beschäftigte aus Industrieunternehmen und über 4 000 Studierende weitergebildet. Neben dem Betrieb und der Weiterentwicklung der Prozesslernfabrik können aktuelle Fragestellungen erforscht werden. Dabei gewinnt das Thema der Digitalisierung von Produktionsprozessen, insbesondere der Einsatz künstlicher Intelligenz in der Produktion, zunehmend an Bedeutung und vielfältige Use Cases wurden bereits in der Prozesslernfabrik umgesetzt. Seit März 2016 bildet die Prozesslernfabrik CiP den Kern des Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrums Darmstadt und bereitet mittelständische Unternehmen auf die Herausforderungen der Digitalisierung vor [18].
In der Prozesslernfabrik CiP werden 9 der 10 Technologiebereiche adressiert. Lediglich Cyber Security wird nicht betrachtet. Insgesamt wurden 24 unterschiedliche Technologien integriert. Hierzu gehören u. a. Pick-by-Light-Systeme, Extended Reality, fahrerlose Transportsysteme und Systeme zur künstlichen Intelligenz. In Bild 4 werden aufbauend auf den betrachteten Technologien die in der Prozesslernfabrik umgesetzten Use Cases dargestellt. Im Folgenden sind ausgewählte Use Cases kurz beschrieben [19]:
- Use Case „aktive Bauteil-Traceability“: Mithilfe von RFID-Chips werden Bauteile zu eigenen Informationsträgern von Daten, die in der Produktion anfallen [20].
- Use Case „digitales Assistenzsystem“: Operative Mitarbeitende werden mithilfe digitaler Assistenzsysteme durch den Prozess geführt. Dabei werden gezielt Hilfestellungen angeboten, wodurch Fehler im Prozess vermieden werden können [21].
- Use Case „fahrerloses Transportsystem“: Der innerbetriebliche Transport von Kleinladungsträgern wird durch fahrerlose Transportsysteme automatisiert [22].
- Use Case „Digitales Shopfloor-Management“: Die bereitgestellten Daten werden in einer Webplattform visualisiert, zu Live-Kennzahlen aggregiert und für die systematische Problemlösung genutzt [23].
- Use Case „Virtual Reality zum personalisierten Lernen“: Durch Virtual Reality wird der Lernprozess personalisiert, indem beispielsweise die Produktionsumgebung oder der Schwierigkeitsgrad angepasst werden. Auf diese Weise wurden zu einer bestehenden Schulung in der Prozesslernfabrik virtuelle Lernumgebungen entwickelt. Durch diese Einbindung handelt es sich bei der Prozesslernfabrik CiP um eine hybride Lernfabrik [24].
- Use Case “Condition Monitoring durch Computer Vision”: Verschleißzustände können durch Bildauswertung mithilfe künstlicher Intelligenz direkt gemessen werden. In der Prozesslernfabrik wird der Verschleiß des Sägeblatts durch Deep-Learning-Algorithmen analysiert [25].
Die oben aufgeführten Use Cases kommen werden im Rahmen des Schulungsprogramms eingesetzt, zu welchem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der CiP-Partnerunternehmen exklusiven Zugang haben. Über das Training hinaus unterstützt die Forschungsgruppe der Prozesslernfabrik CiP die Unternehmen bei der Umsetzung des Gelernten in den Unternehmen vor Ort. Typische Industrieprojekte sind hierbei die Betreuung von Verbesserungsprojekten in Pilotbereichen der Zerspanung, Montage und Intralogistik, wie z. B. bei der Einführung von Shopfloor-Management oder künstlicher Intelligenz [26].“
Kontakt

Antonio Kreß, M. Sc., geb. 1989, studierte Wirtschaftsingenieurswesen mit der technischen Fachrichtung Maschinenbau an der Technischen Universität Darmstadt. Er ist seit 2017 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Produktionsmanagement, Technologie und Werkzeugmaschinen (PTW) in der Forschungsgruppe „Center für industrielle Produktivität“ der Technischen Universität Darmstadt. Von 2019 bis 2021 war er General Secretary der “International Association of Learning Factories”(IALF).

Prof. Dr.-Ing. Joachim Metternich, geb. 1968,
ist Institutsleiter des Instituts für Produktionsmanagement, Technologie und Werkzeugmaschinen (PTW) an der Technischen Universität Darmstadt und leitet die Forschungsgruppen „Center für industrielle Produktivität“ und „Management industrieller Produktion“. Von 2015 bis 2021 war er Präsident der “International Association of Learning Factories”(IALF).