Digitale Zwillinge sind unbestritten ein Enabler für viele datenintensive Anwendungen im Bereich Industrie 4.0, die auf unterschiedlichste heterogene Datenquellen zugreifen müssen. Oft sind mit diesen Anwendungen neue Geschäftsmodelle und Ökosysteme verbunden, speziell wenn die Daten aus firmen- und herstellerübergreifenden Datenquellen kommen. Spätestens dann ist man auf der Suche nach einer Lösung, die mit den Systemen der eigenen Kunden, Partner und Lieferanten kompatibel ist. Der Einsatz von Industrie 4.0-Lösungen schafft Interoperabilität, so dass Komponenten, Geräte und Anwendungen nahtlos über Unternehmen, Branchen und Länder hinweg kommunizieren können. An dieser Stelle ist die Verwaltungsschale (engl. Asset Administration Shell, AAS) der Schlüssel. Sie hilft, digitale Zwillinge für Industrie 4.0 zu implementieren und ist die Basis, um einheitliche und offene Industrie 4.0-Standards zu entwickeln und zu nutzen. Mit der Gründung der Industrial Digital Twin Association Ende letzten Jahres wird ein wichtiger Meilenstein für die Investitionssicherheit und die Unterstützung bei der Umsetzung im Unternehmen gesetzt. Seit März 2021 können neue Mitglieder hinzustoßen.
Der Bedarf an Daten in der Industrie 4.0 steigt stetig, die Komplexität auch (Bild 1). „Industrie 4.0 macht aus Daten eine Währung, die problemlos zwischen den beteiligten Akteuren ausgetauscht werden kann” [2]. Um einen solchen problemlosen Austausch zu ermöglichen, muss nicht nur das Austauschformat beschrieben werden. Vielmehr müssen die auszutauschenden Daten auch von allen Akteuren in derselben Weise verstanden werden. Anders ausgedrückt: Auch die Semantik und der Kontext dieser Daten muss in einer standardisierten Weise beschrieben werden können. Genau das ist die Rolle des Digitalen Zwillings.
Die Verwaltungsschale ist die offene und interoperable Umsetzung des digitalen Zwillings für Industrie 4.0. Das Konzept der Verwaltungsschale wurde in der Plattform Industrie 4.0 erarbeitet. Die erste detaillierte Spezifikation der Verwaltungsschale wurde Ende 2018 veröffentlicht. Die Arbeitsgruppe „Referenzarchitekturen, Standards und Normung“ arbeitet die Verwaltungsschale weiter im Detail aus und führt sie in die Anwendung. Doch was ist die Verwaltungsschale und warum ist sie so wichtig für die Industrie 4.0?

Die Verwaltungsschale und ihre Teilmodelle
Die Verwaltungsschale bildet reale Produkte und Prozesse digital ab und ist die informationstechnische Umsetzung des digitalen Zwillings. Sie ist somit das digitale Abbild, das jedes relevante Gerät (Asset) in der vernetzten Produktion bekommen soll. Alle wesentlichen Eigenschaften eines Assets sind in der Verwaltungsschale in sogenannten Teilmodellen gespeichert. Dazu gehören beispielsweise physische Eigenschaften (Gewicht, Größe), Dokumente, Dateien, Prozesswerte, Konfigurationsparameter, Zustände und Fähigkeiten, aber auch Schaltpläne und sonstige Engineering-Ergebnisse. Die Verwaltungsschale ist nicht nur Speicher, sondern quasi auch Kommunikationsschnittstelle – über sie ist ein Gerät online in die vernetzt organisierte Industrie 4.0-Produktion eingebunden. Es ist so möglich, ein Gerät in seinem Lebenslauf vom Engineering bis zum Betrieb und Austausch zu begleiten und auf alle seine Informationen zuzugreifen.
Verwaltungsschale und die Bedeutung der ausgetauschten Daten
Das Informationsmodell der Verwaltungsschale erlaubt verschiedene Implementierungen. Neben dem Online-Zugriff ist eine ZIP-Datei (komprimierte und strukturierte Datei) die einfachste Variante: Sie kann alle denkbaren Geräte-Informationen aufnehmen wie etwa Zeichnungen, Betriebsanleitungen, Parametersätze, aber auch Software und Firmware eines Geräts sowie Links zu Herstellerseiten. Sie dokumentiert damit beim Maschinenbauer den Auslieferungszustand einer Komponente. So entfällt bei Service oder Gerätetausch viel Suchaufwand. Üblicherweise werden die Daten aber in Geräten, Maschinen und Anlagen sowie in Softwaresystemen und deren Datenbanken gespeichert – egal ob es sich z. B. um ERP-, MES-, CAD-, Simulations- oder Programmiersysteme handelt. Über standardisierte Schnittstellen wie OPC UA, JSON-Objekte oder Webservices können die Daten der Verwaltungsschale dann zugänglich gemacht werden.
Das Informationsmodell der Verwaltungsschale gibt nicht vor, wo Daten gespeichert werden: ob im Produkt, in der Hersteller- oder Kunden-IT vor Ort (on-premise), in Edge- oder Cloud-Systemen – alle Varianten und Kombinationen sind möglich. Die Konzepte und das Informationsmodell der Verwaltungsschale erlauben es, Assets zu beschreiben, die selbst keine Kommunikationsschnittstelle haben (z. B. mechanische Werkstücke). Damit können auch solche passiven Assets in ihrem Lebenslauf über IT-Systeme, die diese Informationen stellvertretend für sie speichern, begleitet werden und einen digitalen Zwilling erhalten.

Diese Flexibilität der Verwaltungsschale ist die Voraussetzung dafür, dass die unterschiedlichsten automatisierten Abläufe rund um den digitalen Zwilling im Lebenslauf von Automatisierungskomponenten, Anlagen und Endkunden-Produkten realisiert werden können. Denn für eine breite und zuverlässige Umsetzung von Industrie 4.0-Projekten müssen Komponentenhersteller, Maschinenbauer und Anlagenbetreiber das Informationsmodell der Verwaltungsschale in unterschiedlichsten Szenarien mit Leben füllen und dabei Informationen standardisiert und damit kostengünstig austauschen können.
Einen Digitalen Zwilling selbst erstellen
Der AASX Package Explorer (dt. Verwaltungsschalen-Explorer) ist ein Open Source-Tool und ein guter Ausgangspunkt für alle, die einen digitalen Zwilling modellieren möchten. Für die Eigenschaften (Properties), die in den Teilmodellen verwendet werden, kann auf internationale Wörterbücher zurückgegriffen werden, die die Bedeutung der Properties standardisieren. Ein Beispiel eines solchen Wörterbuches ist ECLASS.
Der Explorer erleichtert den Einstieg in die Verwendung der Verwaltungsschale. Mit ihm können Verwaltungsschalen modelliert und gebrowst werden. Das Tool kann unter https://github.com/admin-shell-io/aasx-package-explorer/tags kostenfrei heruntergeladen werden [3].
Teilmodell-Vorlagen für Homogenisierung der Daten
Damit beim Erstellen von Verwaltungsschalen über die Breite der Industrie-Unternehmen kein Wildwuchs entsteht, bedarf es einiger Regeln. Denn für die unterschiedlichsten Assets in einer Maschine sollen Verwaltungsschalen-Anwender die Teilmodelle (z. B. für die technischen Daten) immer an der gleichen Stelle und einheitlich aufgebaut finden können. Das hilft nicht nur dem Menschen als Autor oder Leserin, auch automatisierte Verfahren z. B. für die Extraktion von Ersatzteil-Informationen profitieren davon. Dazu haben Arbeitsgruppen der Plattform Industrie 4.0 sogenannte Teilmodell-Vorlagen („Submodel Template”) entwickelt: Beginnend mit Vorlagen für die wichtigsten Informationen, die ein Asset identifizieren und beschreiben, nämlich Typenschild (Nameplate) und technische Daten (Technical Data) entstanden zwei englischsprachige Dokumente.
Diese Submodel Templates bilden eine gute Grundlage für den Einstieg in den AASX Pack-age Explorer und dienen als Basis für die Erstellung einer Verwaltungsschale am Beispiel eines Servomotors. Die folgenden Beispiel-Bilder zeigen jeweils den dreiteilig gegliederten Bildschirm: Auf der linken Seite wird klein das Asset dargestellt, in der mittleren Baumdarstellung können die Strukturelemente der Verwaltunsschale ausgehend von der obersten Verwaltungsschalen-Ebene (Asset Administration Shell AAS) über Teilmodelle (Submodel, SM) und Merkmalsgruppen (Submodel Element Collection SMC) bis hin zu einzelnen Merkmalen (Properties, Prop) durchlaufen werden. Je nachdem, welches Element in der Mitte ausgewählt wurde, werden rechts kontextabhängig die Detailinformationen dazu angezeigt.

Bild 3 zeigt für die Typenschild-Vorlage (Submodel Template Nameplate) und ein ausgewähltes Typenschild-Merkmal (die Servomotor-Bezeichnung des Herstellers) die dahinterliegenden Merkmals-Informationen aus ECLASS und den herstellerspezifischen Wert. Der Benutzer des Explorers muss hier lediglich die Merkmale aus einem Katalog – in diesem Fall von ECLASS – auswählen und die asset-spezifische Typenschild-Information ergänzen. Sollen viele Verwaltungsschalen für eine größere Produktpalette entstehen, kann der Prozess über ERP-, PLM-Systeme oder Produktkonfiguratoren automatisiert werden. Der AASX Package Explorer kann dann zur Qualitätssicherung und zum Debugging von Verwaltungsschalen eingesetzt werden.
Bild 4 zeigt für die technische Datenvorlage (Submodel Template, Technical Data) eine Komfort-Eigenschaft des AASX Package Explorers: Über Plugins (hier den Technical Data Viewer) können Daten gut visualisiert werden (hier in einer Datenblatt-ähnlichen Tabelle). Andere Möglichkeiten sind Viewer für PDF-Dateien oder die graphische Darstellung von Anlagen-Strukturen.
Initiativen fördern semantische Interoperabilität weltweit
Damit das volle Potenzial von digitalen Zwillingen ausgeschöpft werden kann, muss sichergestellt werden, dass Interoperabilität unternehmens- und länderübergreifend möglich ist. Neben der Plattform Industrie 4.0 gibt es weitere Initiativen, die relevant sind. So zum Beispiel die beiden Open Source-
Initiativen Industrial Digital Twin Association (IDTA) und Open Manufacturing Platform (OMP).

Die Verwaltungsschale als Implementierung des digitalen Zwillings im industriellen Kontext setzt sich immer mehr durch. Dies wird u. a. durch die Gründung der Industrial Digital Twin Association sowie die Bereitstellung erster standardisierter Teilmodell-Vorlagen belegt. Verschiedene Open Source-Lösungen ebnen den Weg für schnelle Umsetzungen des digitalen Zwillings.
Der aktuelle Leitfaden für Verwaltungsschalen-Publikationen zeigt verschiedenen Lesergruppen ausgewählte „must-read“-Dokumente. Er wird regelmäßig aktualisiert.
Über die Industrial Digital Twin Association (IDTA)
Der von den Branchenverbänden ZVEI, VDMA und Bitkom sowie 20 Unternehmen aus Maschinenbau und Elektroindustrie initiierte Verein bringt den digitalen Zwilling für die Industrie (Asset Administration Shell, AAS) in die breite praktische Anwendung. Gegründet wurde die Nutzerorganisation am 23. September 2020. Die IDTA entwickelt die Verwaltungsschale konzeptionell und inhaltlich in einem Open Source-Ansatz weiter – etwa über die Integration von Teilmodellen und Informationsmodellen (z. B. OPC UA Companion Specifications) sowie in Richtung internationaler Standardisierung. Gleichzeitig wird die IDTA Komponenten- und Systemhersteller, Maschinenbauer, Softwareunternehmen und Anwender unterstützen: Schulung und Beratung erleichtern die Implementierung eigener AAS-Anwendungen. Qualitätssicherung, Lizensierung und Zertifizierung der AAS schaffen ein solides Werteversprechen und Investitionssicherheit.
Über Open Manufacturing Platform (OMP)
Die Open Manufacturing Platform (OMP) ist eine 2019 gegründete Allianz, die produzierende Unternehmen bei der Skalierung von Innovationen unterstützt, sowohl durch branchenübergreifende Zusammenarbeit und Wissens- und Datenaustausch als auch durch Zugang zu neuen Technologien. Die OMP wurde unter dem Dach der Joint Development Foundation gegründet, die wiederum Teil der Linux Foundation ist. Eine der Arbeitsgruppen, die Working Group „Semantic Data Structuring“ beschäftigt sich damit, wie Informationen über digitale Zwillinge unter Verwendung semantischer Datenstrukturen für Anwendungen bereitgestellt werden können.
Schlüsselwörter:
Digitaler Zwilling, Verwaltungsschale, Industrie 4.0
Tags: digitaler Zwilling Industrie 4.0 Verwaltungsschale