Jürgen Wunderlich ist Professor für Wirtschaftsinformatik an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Landshut – und ein Experte für die Blockchain-Technologie. Ein Gespräch über Wassertemperaturen, Datenschutzbedenken und die aktuelle Debatte zum Lieferkettengesetz.
Herr Wunderlich, was ist die Blockchain-Technologie für Sie – Hype oder Gamechanger?
Der Hype entstand vor allem durch die bereits vor über zehn Jahren erfundene erste Kryptowährung Bitcoin. Sie basiert auf der Blockchain-Technologie und stieg bis Ende 2017 nahezu exponentiell auf fast 17 000 Euro. Dadurch wurden die Vorteile der Technologie bekannt: Die Blockchain ist dezentral und praktisch fälschungssicher. Daten werden statt zentral auf einem Server an vielen verschiedenen Stellen gespeichert und können nicht geändert werden, ohne dass andere das mitbekommen. Schon ein Jahr später, also Ende 2018, hatte die Blockchain jedoch den sogenannten Gartner-Hype-Cycle durchschritten und stürzte vom Gipfel der überzogenen Erwartungen in das Tal der Enttäuschungen ab. Trotzdem gelang es ihr, sich als gemeinsam genutzte, dezentrale Datenbank auf dem Markt zu etablieren.
Und wird sie nun so manche Spielregel ändern?
Die Blockchain-Technologie kann gerade in Kombination mit anderen Technologien wie beispielsweise Internet of Things, in bestimmten Bereichen tatsächlich zum Gamechanger werden. Auch aus diesem Grund hat die Bundesregierung im September 2019 ihre Blockchain-Strategie veröffentlicht, die Deutschland zum Marktführer beim Durchbruch dieser Technologie machen soll. Generell ist die Liste der Anwendungsfälle und Machbarkeitsnachweise immer länger geworden. Gerade bei unternehmensübergreifenden Abläufen dienen viele Prozessschritte nur dazu, Informationen von einem System auf das andere zu übertragen. In diesem Zusammenhang verspricht die Technologie durchaus enormes Potenzial. Denn solche Informationen müssen dann nur noch einmal, nämlich auf der Blockchain, hinterlegt und nicht mehr validiert oder integriert werden.
Wo kommt die Technologie bereits zur Anwendung?
Die bekanntesten und häufigsten Beispiele finden sich im Bereich der Finanztransaktionen. Vor allem die erwähnten Kryptowährungen verdeutlichen, wie die Technologie in der Finanzwelt eingesetzt werden kann. Doch auch im Bereich der Supply Chain existieren interessante Anwendungen vor allem für das Tracking und Tracing. So nutzt das US-amerikanische Nahrungsmittel-Unternehmen Naturipe die Blockchain-Technologie in großem Umfang, um seine Vision der Rückverfolgbarkeit „vom Ernteort bis auf den Tisch“ zu verwirklichen. Mit Blockchain-Technologie ist das Unternehmen besser in der Lage, lokale und globale Gemeinschaften zu unterstützen und sich für Umweltschutz und ethische Geschäftspraktiken einzusetzen. Generell eignet sich die Technologie also besonders für Netzwerke mit zahlreichen eigenständigen Teilnehmern, die eine effiziente und sichere Dokumentation von Transaktionen benötigen.
Die Möglichkeit der Blockchain in der Supply Chain ist ja auch eines Ihrer Forschungsthemen. Wo liegen hier die Chancen und Risiken?
Als Chancen für die Nutzung der Technologie im Einkauf sind die Kontrolle der Lieferantenqualifikation, eine höhere Transparenz bei der Dokumentation und die Effizienzsteigerung durch Automatisierung zu nennen. Demgegenüber stehen die schwerfällige Technologie, die unklare Haftungsfrage und die vergleichsweise wenig effiziente Datenbankarchitektur. Es gilt also, je nach Anwendungsfall konkret abzuwägen. Das Anwendungsfeld „Track & Trace“ im Bereich Supply Chain ist hierbei am vielversprechendsten. Innerhalb dieses Feldes stechen wiederum die Anwendungsfälle Umwelt-Tracking, Compliance-Tracking und Herkunftsnachweis heraus. Es zeigte sich, dass die Nachverfolgung der Lieferkette für die Blockchain-Technologie am sinnvollsten ist. Entsprechend viele (Pilot-)Anwendungen gibt es. So hat beispielsweise das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik ein System entwickelt, das den Transport von Europaletten mit Sensoren und Trackern verfolgt und die Daten in der Blockchain revisionssicher speichert. Der Tracker befindet sich im Gestell und sendet zweimal pro Tag Daten, etwa zu Standort, Temperatur und Feuchtigkeit.
Wie kann das genutzt werden?
Das ist zum Beispiel für Spediteure interessant, die verderbliche Güter transportieren. Die eingesetzte Blockchain-Technologie ermöglicht es, mit Hilfe von Smart Contracts vertragliche Vereinbarung automatisch zu überwachen, also wenn beispielsweise ein Temperaturkorridor vorgegeben ist. Im Fischereibereich geht aktuell im September 2020 eine Blockchain-Plattform des norwegischen Fischereiverbands NSL an den Start. Sie soll zahlreiche Informationen wie Wassertemperaturen und Futter während der Aufzucht erfassen sowie Zeitpunkt der Geburt und des Fangs, Transportweg und Lagerungsbedingungen. Diese Transparenz ist für die norwegischen Fischer ein wichtiges Argument, um ihre vergleichsweise teuren Produkte zu verkaufen.
Also verspricht die Technologie auch finanzielle Vorteile?
Das monetäre Potenzial der Blockchain lässt sich nur schwer schätzen. Das Analysehaus Juniper Research prognostiziert, dass der Umsatz mit Blockchain-Anwendungen im Einzelhandel, die etwa Lieferketten effizienter und transparenter machen, bis 2023 auf ca. 4,5 Milliarden US-Dollar steigt. Das entspräche einem jährlichen Wachstum von ungefähr 139 Prozent.
Sie haben schon die Möglichkeiten der Blockchain angesprochen, Lieferketten nachzufolgen. Im Moment wird ja über ein Lieferkettengesetz debattiert. Unternehmen sollen ihre gesamte Lieferkette im Blick haben und so gegen Menschenrechts- und Umweltverletzungen vorgehen. Es klingt, als könnte die Blockchain-Technologie hier helfen?
Ja, denn gerade für die Überwachung von Lieferketten ist die Blockchain-Technologie prädestiniert. So arbeiten derzeit zahlreiche Akteure an Lösungen für die Nachverfolgung globaler Lieferketten. Beispielsweise testet das Berliner Unternehmen CircularTree eine Blockchain, die die Lieferkette eines Autoherstellers von den Minen bis zum Hersteller nachverfolgt. Das Gestein aus den Minen wird dabei mit einem Barcode versehen und in der Blockchain wird festgehalten, wann und wo genau wie viel Gestein verschifft wurde. So soll die gesamte Kette transparent werden. Ein anderer Autobauer gab kürzlich seine Kooperation mit dem britischen Blockchain-Start-up Circulor bekannt. Die Zusammenarbeit dreht sich um die Förderung von fair produziertem Kobalt. Die seltene Erde kommt unter anderen in Autobatterien zum Einsatz und wird oft unter menschenunwürdigen Bedingungen geschürft. Allgemein ist es wichtig, im Prozessschritt der Lieferantenauswahl eine mehrstufige Lieferantenqualifizierung einzuführen. In vielen Fällen erfolgt die strategische Lieferantauswahl einmalig für einen gewissen Zeitraum von drei bis fünf Jahren. Die einzuhaltenden Menschenrechts- und Umweltschutzstandards lassen sich aus der Ferne sehr schwer kontrollieren. Hier könnten beispielsweise externe Partner oder lokale Agenturen die Unternehmen vor Ort zusätzlich durch Zertifizierungen oder Audits unterstützen. Die Ergebnisse könnten dann in die Blockchain geschrieben werden.
Trotz all der Chancen werden ebenso Einwände und Kritik laut, wenn es um die Blockchain geht. Wo hakt es noch?
Aktuell ist die Technologie schlicht noch zu langsam für den Realtime-Einsatz, bei dem Entscheidungen über Transaktionen innerhalb von Millisekunden getroffen werden müssen. Für Business-Anwendungen im Internet steht das Vertrauen in Sicherheit und Verlässlichkeit im Zentrum aller Überlegungen. Bisher gibt es keine Blockchain, die von allen Teilnehmern akzeptiert und genutzt wird. Das kann sich aber ändern, wenn die Blockchain-Technologie über einen längeren Zeitraum sicher funktioniert und in einen rechtlichen und regulatorischen Rahmen eingebunden ist – auch international. Darüber hinaus vertragen sich grundlegende Aspekte des Datenschutzes – zum Beispiel das Recht auf Vergessen – nicht ohne entsprechende Lösungsansätze mit den Charakteristika der Blockchain. Zusätzlich stellt aus ökologischer Sicht vor allem der Energieverbrauch eines der großen Probleme der Blockchain dar, denn die Validierung und Verschlüsselung von Transaktionen verschlingt schon heute ungeheure Energiemengen. Allerdings ist keine dieser Hürden unüberwindlich.
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