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Industrie 4.0 – Einfluss der Digitalisierung auf die fünf Lean-Prinzipien Schlank vs. Intelligent

Lesedauer:  6 Minuten

Die wachsenden Herausforderungen von sinkenden Produktlebens- und Innovationszyklen sowie die Zunahme kundenindividueller Anforderungen bei gleichzeitigem Kostendruck in einem globalen Umfeld haben Wertschöpfungsnetzwerke dynamischer und komplexer werden lassen. In den letzten Jahren hat die Digitalisierung industrieller Prozesse diese Trends weiter verstärkt. Klassische Konzepte wie das Lean Management sehen sich daher mit neuen Chancen und Risiken konfrontiert, mit denen sich die Führungskräfte auseinander setzen müssen.

Verschlankung von Produktion und Logistik

In den letzten Jahrzehnten hat sich branchenübergreifend das Konzept des „Lean Managements“ zur Optimierung von Produktionsprozessen durchgesetzt. Fokussiert wird die Verschlankung von Produktionsprozessen durch die Vermeidung und Eliminierung von nichtwertschöpfenden Tätigkeiten entlang der Material- und Informationsflüsse. Etabliert haben sich fünf Lean-Prinzipien, die als Leitlinien zur Überprüfung eines bestehenden Systems verstanden werden [1, 2]:

  1. Kundenorientierung
  2. Wertstrom identifizieren und analysieren
  3. Fluss erzeugen
  4. Pull anwenden
  5. Perfektion anstreben

Die Kundenorientierung hat das Ziel den Wert eines Produktes oder einer Dienstleistung aus Sicht der Kunden zu definieren. Kern ist die bestmögliche Erfüllung des Kundenwunsches mithilfe einer Bereitstellung des individuell zugeschnittenen Produktes zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu minimalen Kosten. Kundenaufträge werden zu Beginn der Fertigung statisch festgelegt, um eine optimierte Faktorkombination zu ermöglichen.

Die Identifikation und Analyse des Wertstromes erfolgt durch eine detaillierte, meist visuelle Darstellung der Fertigungsschritte mittels Trennung von nicht / wertschöpfenden bzw. kostensteigernden Tätigkeiten. Die Konzentration auf wertschöpfende Prozesse soll Verschwendung vermeiden bzw. reduzieren und unterstützt die Ausrichtung auf die Kundenbedürfnisse. Das Verständnis des Wertstroms dient dem effektiven Einsatz aller Ressourcen im Sinne einer ganzheitlichen, optimierten Ausrichtung der Produktion.

Durch die Schaffung einer fließenden Produktion kann der Produktionsablauf geglättet und eine funktionsübergreifende Harmonisierung erzielt werden. Das Flussprinzip soll den Materialstrom ohne (größere) Unterbrechungen ermöglichen. Ein kontinuierlicher Fluss kann gelingen, wenn das produzierte Los so klein wie möglich ist – im Optimalfall in einem Ein-Stück-Fluss (One-Piece-Flow).

Das Pull-Prinzip besagt, dass die Produktion „ziehend“ durch den Kundenauftrag bzw. einen Bestellpunkt angestoßen wird. Die Planung und Steuerung erfolgt dabei zentral. Der Informationsfluss ist dem Materialfluss traditionell entgegengerichtet.

Das Streben nach Perfektion soll durch einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess sichergestellt werden, indem der Status Quo fortwährend von jedem einzelnen Mitarbeiter in Frage gestellt wird. Das Lean-Konzept beruht nicht auf einer einmaligen Umsetzung, sondern auf einer fortwährenden Vermeidung von Stillstand.

Bild 1 zeigt einen beispielhaften Wertstrom mit seinen wichtigsten Elementen, wie er schematisch in den meisten Unternehmen mittels Lean Management etabliert ist.


Bild 1: Wertstrom „heute“ [3]

Digitalisierung von Produktion und Logistik

Das Konzept des Lean Managements entstand vor dem Hintergrund einer kundenindividuellen Massenproduktion. Der Wunsch der Kunden nach weiterer Individualisierung der Produkte verstärkt sich weiterhin [4]. Gleichzeitig steht die produzierende Wirtschaft aufgrund des Einsatzes informationstechnischer, über das Internet vernetzter Hilfsmittel vor einem grundlegenden Wandel [5]. Für Unternehmen an einen Hochlohnstandort wie Deutschland ist es zunehmend wichtig, sich vom klassischen kostengetriebenen Massengeschäft hin zu neuen Geschäftsmodellen mit neuen Umsatzmöglichkeiten und einer engeren Verzahnung mit den Kunden weiterzuentwickeln. Diese Umwälzung gilt es zu verstehen und von Prozess- und Produktseite zu nutzen, um die grundlegende Weiterentwicklung von Produkten und Technologien wirtschaftlich und qualitativ erfolgreich einzusetzen [6].

Das Konzept Industrie 4.0 beschreibt die technische Integration cyber-physischer Systeme sowie die Umsetzung des Internets der Dinge und Dienste in Produktion und Logistik. Diese Einbeziehung industrieller Prozesse hat weitreichende Konsequenzen für Wertschöpfung, Geschäftsmodelle, nachgelagerte Dienstleistungen sowie die generelle Arbeitsorganisation in Unternehmen [6]. Industrie 4.0 nutzt die Vernetzung sämtlicher Objekte, eine sensorische Umfelderfassung und die transparente Echtzeitabbildung von Produktionsabläufen zur Umsetzung einer flexiblen, dezentralen Koordination selbststeuernder Elemente, wie z. B. „intelligenten“ Maschinen oder Behältern. Der Mensch als „informierter Entscheider“ soll aufbereitete Informationen zielgerichtet und situationsadäquat für die Optimierung von Prozessen nutzen können [7].

Zukünftig wird sich das Konzept der Industrie 4.0 durch die Digitalisierung des Wertstroms insbesondere auf die Verschiebung von zentralen zu dezentralen Informationsflüssen auswirken (Bild 2).

Als Konsequenz zeichnen sich Veränderungen der Lean-Prinzipien ab.

Die Kundenorientierung behält auch in einer digitalisierten Welt seine Berechtigung. Sie wird durch die kürzeren und direkten Informationswege weiter zunehmen. Technologisch wird die Abfolge der Fertigungsschritte selbststeuernd zwischen den intelligenten Elementen (Maschine, Transportmittel etc.) realisiert und abhängig vom jeweiligen Ziel zwischen diesen „ausgehandelt“. Ziele können so kürzeste Lieferzeiten bzw. höchste Lieferperformances in einem weltweiten Produktions- und Logistiknetzwerk durch Vernetzung in Echtzeit sein, damit Kunden ihre eigenen Wertströme nahezu bestandsfrei optimieren können.

Der Wertstrom verläuft im Bereich zwischen der virtuellen und der realen Welt. Unternehmensübergreifend wird sich der Wertstrom erweitern. Die horizontale wie vertikale Integration durch Automation und IuK zucyber-physischen Systemen innerhalb und außerhalb des Unternehmens erhöht die Flexibilität und die Transparenz entlang der Supply Chain. Durch bidirektionale Informationsflüsse entsteht eine echtzeitfähige Rückkopplung, um z. B. auf Störungen zeitnah reagieren zu können.


Bild 2: Wertstrom „morgen“ [8]

Mit der Steigerung der Transparenz in der Wertschöpfung ist die Realisierung des One-Piece-Flows für das Flussprinzip verstärkt gefordert. Allerdings muss eine Flussorientierung oder maximale Auslastung u. a. durch die wachsende Aussagekraft der Datenvielfalt („Big Data“) nicht mehr zwangsläufig priorisiert werden. Die direkte und unmittelbare Kommunikation und Vernetzung zwischen Kunden und Lieferanten führen zu verkürzten Entscheidungsprozessen, wodurch u. a. klassische Bullwhip-Effekte in der Supply Chain minimiert werden.

Die Notwendigkeit einer Pull-Produktion in einer smarten Fabrik wird zu diskutieren sein. Aufgrund einer Verschiebung hin zur dezentralen Planung und Steuerung sowie einer dezentralen Konfiguration der Prozessschritte können Auftragsabstimmungsprozesse mittels eventbasierter Ad-hoc-Planung und Steuerung auf kurzen Wegen getroffen werden. Die Bestände innerhalb der Produktion können durch die erhöhte Prozesstransparenz und der engeren Vernetzung innerhalb der gesamten Supply Chain minimiert werden.

Das Streben nach Perfektion wird weiterhin von größter Bedeutung sein. Die zunehmende Vernetzung führt zu mehr intelligenten, nicht-menschlichen Akteuren im Produktionsumfeld und führt zu einer Selbststeuerung und Selbstoptimierung zwischen den „Dingen“, die selbstlernende Systeme im System entstehen lassen.

Vergleich der Prinzipien in Lean Management und Industrie 4.0

Bild 3 stellt Lean Management und Industrie 4.0 gegenüber. Die Kundenorientierung wird weiterhin Basis und Ausgangspunkt aller Aktivitäten sein [3]. Durch die Industrie 4.0 soll die Individualfertigung entlang des Kundenwunsches unter der Prämisse der Wirtschaftlichkeit massentauglich gemacht werden. Hierfür ist es aufgrund der Digitalisierung und der Überschneidung von virtueller und realer Welt weiterhin nötig den Wertstrom zu identifizieren und zu analysieren. Der Informationsfluss wird jedoch im Zuge der Vernetzung neue, direkte Wege zwischen intelligenten Akteuren ermöglichen. Verändern wird sich auch der Anspruch an die Perfektion. Nachdem das Lean Management darauf zielte die Mitarbeiter zu befähigen permanent den Status Quo zu hinterfragen, wird es in Zukunft Aufgabe der intelligenten Maschine sein, Verbesserungen vorzuschlagen – die schlanke Produktion wird so zum selbstlernenden System. Der Mensch wird in der Rolle des Prozessgestalters und Entscheider bei Problemfällen weiter gestärkt, während die IT Routinen übernimmt.


Bild 3: Gegenüberstellung Lean Management und Industrie 4.0

Die fünf Prinzipien des Lean Managements beschreiben die grundlegenden Vorstellungen zur Etablierung einer schlanken Produktion. Die Erweiterung der Lean-Prinzipien um die Aspekte der Industrie 4.0 zeigt, dass sie nicht ad absurdum geführt werden. Sie werden daher auch in Zukunft für die Mehrheit der Unternehmen von großer Bedeutung sein. Die Umsetzung von Industrie 4.0 gibt den Unternehmen die Chance einen höheren Reifegrad innerhalb der Lean-Prinzipien zu erreichen. Die interessante Frage wird jedoch sein, ob Unternehmen zukünftige Chancen und Risiken durch die Digitalisierung industrieller Prozesse proaktiv oder reaktiv begegnen.

Schlüsselwörter:

Lean Management, Lean-Prinzipien, Industrie 4.0, Cyber-physische Systeme, Internet der Dinge, Smart


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