Mit der wachsenden Bedeutung logistischer Zielgrößen für den Erfolg eines Unternehmens gewinnt die Reihenfolgebildung zunehmend an Relevanz, da sie einen direkten Einfluss auf die Zielgrößen Termintreue und Durchlaufzeit hat. Der vorliegende Beitrag stellt einen Ansatz vor, der eine allgemeingültige qualitative Beschreibung der Wirkung unterschiedlicher Prioritätsregeln auf produktionslogistische Zielgrößen ermöglicht und so die Auswahl einer geeigneten Prioritätsregel unterstützt, ohne eine fallspezifische Simulation zu erfordern.
Prioritätsregeln in der Reihenfolgebildung
Eine gute Unternehmenslogistik führt zu einem im Vergleich mit anderen Unternehmen schnelleren Wachstum und höheren Gewinnen. Für die optimale Gestaltung der Unternehmenslogistik ist eine ganzheitliche Betrachtung der produktionslogistischen Zielgrößen Bestand, Auslastung, Durchlaufzeit und Termintreue unerlässlich [1, 2]. Der Fertigungssteuerung kommt hierbei wesentliche Bedeutung zu [1, 3]. Unter den Aufgaben der Fertigungssteuerung – Auftragserzeugung und -freigabe, Kapazitätssteuerung, Reihenfolgebildung – nach Lödding [1] nimmt die Reihenfolgebildung eine besondere Stellung ein, da nur sie neben der Kapazitätssteuerung kurzfristig die logistische Zielerreichung in der Produktion beeinflussen kann [1, 4]. Der vorliegende Beitrag, welcher Ergebnisse des durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts „Modellbasierte Bewertung der logistischen Wirkung von Prioritätsregeln in der Reihenfolgeplanung“ wiedergibt, beschäftigt sich mit der Lösung von Reihenfolgeproblemen mittels Prioritätsregeln. Deren kurze Rechenzeiten, die einen prozessbegleitenden Einsatz ermöglichen, sowie die einfache Operationalität haben dazu geführt, dass sie sich gegenüber anderen Verfahren in der Praxis durchgesetzt haben [5].

Obwohl in der Vergangenheit zahlreich Forschungs- und Entwicklungsarbeit im Bereich der Prioritätsregeln geleistet wurde, gibt es bisher weder qualitative noch quantitative Modelle, die die Wirkung von Prioritätsregeln allgemeingültig und hinreichend genau abbilden [4, 6]. Das genannte Forschungsprojekt wirkt darauf hin, dieses Defizit zu beheben. Die Wirkung ausgewählter Prioritätsregeln wird zunächst mit Hilfe der Simulation qualitativ und allgemeingültig abgebildet. Die Ergebnisse der Simulation werden anschließend genutzt, um ein mathematisches Wirkmodell aufbauend auf der Kennlinientheorie nach Nyhuis [7] zu entwickeln. Ziel ist es, die Auswahl der für ein Unternehmen und eine bestimmte Betriebssituation optimalen Prioritätsregel ohne aufwendige fallspezifische Simulation zu ermöglichen. Der Fokus des vorliegenden Beitrages liegt auf der Simulation und der Ableitung allgemeingültiger qualitativer Aussagen, da sie den ersten Schritt der Modellierung bildet.
Simulation
Gegenstand des genannten Forschungsprojektes sind die in Forschung und Anwendung am häufigsten diskutierten lokalen, einfachen Prioritätsregeln First-in-First-out (FIFO), Kürzeste Operationszeit (KOZ), Längste Operationszeit (LOZ) sowie die Schlupfzeitregel (SZ) [1].
Für die Ableitung qualitativer Zusammenhänge ist es zunächst erforderlich, die Wechselwirkungen zwischen den grundlegenden Elementen in einem mehr oder weniger intuitiven Prozess zu erkennen. Dies stellt den wichtigsten, aber zugleich auch schwierigsten Schritt dar. Die Annahme idealisierter Bedingungen, z.B. die Vernachlässigung von kapazitiven Störungen, unterstützt dabei, ein auf das Wesentliche beschränktes Abbild des Untersuchungsobjektes zu erhalten und die Komplexität so angemessen zu verringern [7].

Aufbauend auf den Erkenntnissen von Nyhuis [7] und Yu [8], die auf der Annahme einer Abfertigung der Aufträge nach FIFO basieren, wurden in diesem Zusammenhang Hypothesen für den Einfluss der ausgewählten Prioritätsregeln auf die produktionslogistischen Zielgrößen entwickelt, die in den Versuchsplan der Simulation eingehen. Im Folgenden wird das Vorgehen exemplarisch für die Zielgröße Durchlaufzeit dargestellt.
Basis der Analysen bildet ein Produktionssystem, das aus einem Arbeitssystem und einem Puffer besteht. Diesem Arbeitssystem gehen Aufträge mit unterschiedlichem Arbeitsinhalt (gemessen mit der erforderlichen Bearbeitungs- bzw. Durchführungszeit) zu. Das Arbeitssystem ist zum Zeitpunkt des Auftragszugangs leer und alle Aufträge gehen zur gleichen Zeit zu. Bild 1 veranschaulicht dieses Modell anhand von vier Aufträgen und der Betrachtung der Prioritätsregeln FIFO, KOZ und LOZ.
Es ist zu erkennen, dass sich abhängig von der Prioritätsregel unterschiedliche Werte für die mittlere Durchlaufzeit ergeben. Die KOZ- und die LOZ-Regel haben dabei den stärksten Einfluss auf die mittlere Durchlaufzeit eines Produktionssystems, da die Durchführungszeiten der Vorgängeraufträge den Nachfolgeaufträgen jeweils als Übergangszeit zugerechnet werden. Für eine Definition der Zeitanteile vgl. [7]. Diese Einschätzung findet sich in zahlreichen empirischen Studien belegt, vgl. [9]. Hieraus wird die erste Hypothese abgeleitet, nämlich, dass sich über den extremen Einfluss der KOZ- und LOZ-Regel ein Gleichungssystem für die mittlere Durchlaufzeit gewinnen lässt, aus dem durch Parametrisierung die Durchlaufzeitkennlinien für andere Prioritätsregeln abgeleitet werden können.
Darüber hinaus ist erkennbar, dass neben der Anzahl wartender Aufträge vor dem Produktionssystem, die mittlere Durchführungszeit und ihre Streuung einen Einfluss auf die mittlere Durchlaufzeit haben. Diese Hypothese fließt ebenfalls in den Vollfaktoriellen Versuchsplan der folgenden Simulation ein, der die Wechselwirkungen sämtlicher Parameter umfassend analysiert.
Der Simulationsaufwand wird begrenzt, indem direkt nach Simulationsdurchführung eine Evaluierung des Einflusses des untersuchten Parameters auf die Durchlaufzeit durchgeführt wird. Zeichnet sich ein eindeutiger Trend ab, der die angenommenen Hypothesen bestätigt, so müssen keine weiteren Simulationsläufe durchgeführt werden.
Um dem bestehenden Defizit bisheriger Forschungsergebnisse bezüglich der mangelnden Vergleichbarkeit des Einflusses von Prioritätsregeln zu begegnen, wurde die Wirkung der Prioritätsregeln auf die logistischen Zielgrößen in der Simulation in einem statischen Bezugssystem abgebildet. Wird der Einfluss eines Parameters – beispielsweise der Durchführungszeitstreuung – auf die Durchlaufzeit analysiert, so werden alle anderen Parameter konstant gehalten. Die Einflüsse der Prioritätsregeln sind so quantitativ vergleichbar. Weiterhin werden die Eingangsparameter der Simulation detailliert dokumentiert, um die Betriebszustände des Produktionssystems eindeutig und nachvollziehbar zu definieren.
Die Ergebnisse von Simulationsläufen, die den Einfluss der Prioritätsregeln KOZ, LOZ und FIFO bei variiertem mittlerem Bestandsniveau auf die mittlere Durchlaufzeit und die mittlere Anzahl wartender Aufträge zeigen, belegen, dass tatsächlich ein Korridor von der KOZ- und der LOZ-Regel aufgespannt wird. Die entsprechenden Zusammenhänge aus der Simulation zeigt Bild 2. Dies ist ein erstes Indiz für die Richtigkeit der ersten Hypothese. Die Darstellung über dem mittleren Bestand trägt der Kennlinientheorie nach Nyhuis Rechnung, in der die Gleichungen für die produktionslogistischen Zielgrößen in Abhängigkeit vom mittleren Bestandsniveau eines Arbeitssystems ausgedrückt werden, vgl. [7].
In Bild 2 ist zu erkennen, dass die Kennlinien über mehrere Simulationspunkte gewonnen werden. Durch eine Simulation wird immer nur ein bestimmter Betriebszustand des Produktionssystems abgebildet. Um allgemeingültige Aussagen bezüglich der Wirkung von Prioritätsregeln ableiten zu können, ist es daher erforderlich, eine hohe Anzahl unterschiedlicher Betriebszustände zu simulieren und die Ergebnisse in Form von Kennlinien zu verdichten, was hier geschehen ist.
Mit weiteren Simulationsexperimenten wird der Einfluss der Durchführungszeitstruktur, welche durch die Prioritätsregeln beeinflusst wird, auf die mittlere Durchlaufzeit nachgewiesen. Für detaillierte Ausführungen sei auf [4] verwiesen, da diese den Rahmen des vorliegenden Beitrages sprengen würden.
Das 3D-Profil, welches sich bei Überlagerung der Einflüsse des Mittelwertes der Durchführungszeit und der Streuung der Durchführungszeit auf die mittlere Durchlaufzeit ergibt, kann Bild 3 bei einem mittleren Bestandsniveau von 60 Stunden entnommen werden. Mit Hilfe dieser Profile kann erstmalig der Einfluss der Durchführungszeitstruktur auf die mittlere Durchlaufzeit in Abhängigkeit von der gewählten Prioritätsregel allgemeingültig beschrieben werden.
Die im genannten Forschungsprojekt ermittelten Kennlinien (hierzu zählen auch die Kennlinien für die Termintreue, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen wird) belegen, dass in Bezug auf die Wirkbeschreibung von Prioritätsregeln auf produktionslogistische Zielgrößen kaum Verallgemeinerungen möglich sind, da die Betriebssituation mit ihren Eingangsparametern (beispielsweise einer Terminabweichung im Zugang) wesentlichen Einfluss auf die positive bzw. negative Wirkung einer Prioritätsregel auf eine logistische Zielgröße darstellt. Dies liefert ebenfalls eine plausible Erklärung für die zahlreichen unterschiedlichen Aussagen über die Wirkung von Prioritätsregeln in Forschung und Praxis.

Um qualitative Aussagen bezüglich der Wirkung von Prioritätsregeln auf produktionslogistische Zielgrößen treffen zu können, ist eine Betriebssituation zu definieren, für welche spezifische Aussagen getroffen werden können.
Für die in Bild 4 dargestellte Prinzipbetrachtung, die die Wirkung der Prioritätsregeln vergleichend zur FIFO-Regel evaluiert, wurde eine Betriebssituation angenommen, die über eine sehr hohe mittlere Zugangsterminabweichung und eine hohe Streuung der Zugangsterminabweichung charakterisiert ist. Dies bedeutet, dass die dem Produktionssystem im Schnitt deutlich zu spät zugehenden Aufträge ebenfalls mit einem breit gefächerten Terminverzug versehen sind. Neben der mittleren Durchlaufzeit und der Termintreue werden auch ihre jeweiligen Streuungen abgebildet. Für einen umfassenden Überblick wurde auch die Bewertung der SZ-Regel aufgenommen. Für eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse (auch hinsichtlich des Einflusses der belastungsorientierten Auftragsfreigabe für die Wirkung dieser Prioritätsregel) sei an dieser Stelle erneut auf [4] verwiesen.
Mathematische Modellierung
Durch Simulationsversuche ist es bereits gelungen, die Hypothese für den Einfluss der Durchführungszeitstruktur auf die mittlere Durchlaufzeit zu bestätigen. Auch findet sich bereits ein Indiz für ein Gleichungssystem, das durch die Durchlaufzeitkennlinien der KOZ- und LOZ-Regel gebildet wird und aus dem die Durchlaufzeitkennlinien für weitere Prioritätsregeln durch Parametrisierung abgeleitet werden können, vgl. Bild 2. Im Rahmen der mathematischen Modellierung konnte an dieser Stelle ebenfalls der Beweis erbracht werden. Auf der Grundlage von Little’s Law [10] wurde zunächst eine Basisgleichung identifiziert. Diese drückt aus, dass die Durchlaufzeit für eine beliebige Prioritätsregel abhängig ist von der mittleren Durchlaufzeit nach FIFO, welche seit Nyhuis bekannt ist [7], und dem Quotienten aus der mittleren Anzahl der wartenden Aufträge der zu untersuchenden Prioritätsregel sowie der mittleren Anzahl der wartenden Aufträge bei FIFO-Abfertigung. Über eine Parametrisierung der Basisgleichung mit Hilfe der Simulationsergebnisse und der Integration der Durchführungszeitstruktur konnten die Durchlaufzeitkennlinien für die KOZ- und LOZ-Regel bestimmt werden. Die Abbildungsgüte der identifizierten Gleichungen wurde mit Hilfe statistischer Analysen in zwei Schritten durchgeführt. Zunächst wurde die Abweichung der berechneten von der simulierten Durchlaufzeit und anschließend die Verteilungsform der identifizierten Abweichung analysiert. Die Auswertungen ergaben, dass die Abweichungen zwischen den berechneten und den simulierten Werten für die Durchlaufzeit sowohl bei der KOZ- als auch bei der LOZ-Regel mit einer Wahrscheinlichkeit von ca. 90% weniger als 20% betragen. Darüber hinaus ließ sich mit dem Chi-Quadrat-Test hinsichtlich der Verteilungsform der Abweichungen nachweisen, dass es keine signifikanten Einzelabweichungen gibt.

Schlussendlich wurde im Forschungsprojekt anhand der Prioritätsregel Schlupfzeit noch der Nachweis erbracht, dass das auf den Gleichungen der Prioritätsregeln KOZ und LOZ beruhende mathematische Modell auch auf andere Prioritätsregeln übertragen werden kann. Die Abbildungsgüte wurde hierbei im Vergleich zu KOZ und LOZ sogar noch übertroffen. Eine detaillierte Darlegung der beschrieben Vorgehensweise und der Ergebnisse findet sich in [4].
Ausblick
Für den Ansatz der hier vorgestellten allgemeingültigen quantitativen Beschreibung des Einflusses von Prioritätsregeln auf produktionslogistische Zielgrößen ergeben sich zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten. So können die ermittelten Durchlaufzeitkennlinien etwa zur Bewertung von Produktionsabläufen herangezogen werden oder die Planung unterstützen – ohne aufwendige Simulation.
Um den weiteren Verlauf der Arbeiten noch näher an der Praxis auszurichten, sind Störeinflüsse in die Modellierung zu integrieren, die bei der Annahme idealer Bedingungen bis jetzt vernachlässigt wurden. Darüber hinaus ergibt sich weiterer Forschungsbedarf bzgl. der Modellierung weiterer Prioritätsregeln, die etwa eine Priorisierung nach Fertigstellungstermin oder Rüstzeitoptimierung vornehmen. Gegenstand weiterer Aktivitäten wird es ebenfalls sein, allgemeingültige Aussagen auch bzgl. anderer produktionslogistischer Zielgrößen wie der Termintreue abzuleiten und in ein mathematisches Modell zu integrieren.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Projekts „Modellbasierte Bewertung der logistischen Wirkung von Prioritätsregeln in der Reihenfolgeplanung“, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unter dem Kennzeichen NY 4/21-1 gefördert wird.
Schlüsselwörter:
Reihenfolgeplanung und -bildung, Produktionslogistik, Kennlinientheorie, Produktionsplanung und -steuerung
Literatur:
[1] Lödding, H.: Verfahren der Fertigungssteuerung. Berlin 2008.[2] Wiendahl, H.-P. u.a.: Controlling in Lieferketten. In: Schuh, G.: Produktionsplanung und -steuerung. Berlin 2006.
[3] Wiendahl, H.-P.: Fertigungsregelung. München 1997.
[4] Fischer, A.: Modellbasierte Wirkbeschreibung von Prioritätsregeln. Garbsen 2007.
[5] Evers, K.: Simulationsgestützte Belegungsplanung in der Multiressourcen-Montage. Hannover 2002.
[6] Gupta, J. N. D.: An excursion in scheduling theory. Production Planning & Control 13 (2002) H. 2, S. 105-116.
[7] Nyhuis, P. u.a.: Fundamentals of production logistics. Berlin 2009.
[8] Yu, K.: Terminkennlinie. Düsseldorf 2001.
[9] Conway, R.: Theory of Scheduling. New York 2003.
[10] Little, J. D. C.: A Proof of the Queuing Formula L = W. Operations Research 9 (1961) H. 3, S. 383-387.
Tags: Kennlinientheorie Produktionslogistik Produktionsplanung und -steuerung